Frauenhaus Burgdorf : "Du musst abhauen und sehen, wie du klarkommst. Der Typ bleibt zu Hause und behält alles"

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Ein Schutzraum bei Hannover geht neue Wege: Die Adresse ist nicht geheim – auch die Täter, vor denen die Bewohnerinnen flohen, können leicht herausfinden, wo die Frauen leben. Was sind die Vorteile dieses Konzepts?

Trigger-Warnung: Häusliche Gewalt 

Heftbox Brigitte Standard

Natürlich wollte sie nie hierher. Wer will schon mitten in der Nacht aus der eigenen Wohnung flüchten, nur schnell Portemonnaie und Handy greifen und alles andere zurücklassen? “Aber als Frau hast du keine Wahl”, sagt Sabrina (Namen der Bewohnerinnen zu ihrem Schutz geändert). Wenn dein Partner dich als “wertloses Stück Scheiße” beschimpft und mit “Jetzt kriegst du, was du verdienst” bedroht, wenn er dich festhält und schlägt, dann bist du auf dich gestellt. “Du musst abhauen und kannst sehen, wie du klarkommst. Der Typ bleibt zu Hause und behält alles.” So jedenfalls erging es der 28-Jährigen. “Und den anderen Frauen hier auch.”

Die aktuelle Statistik des Bundeskriminalamts zeigt: 70,5 Prozent der Opfer häuslicher Gewalt sind weiblich, jeden Tag sind 515 Frauen betroffen; jeden zweiten Tag stirbt eine Frau. Sabrina hat körperlich zwar keine Spätfolgen davongetragen, “aber”, sagt sie, “ich kriege das nicht gut aus meinem Kopf.”

Sabrina, klein, zierlich, mit blonden, lockigen Haaren, sitzt in ihrem Zimmer im offenen Frauenhaus der AWO (Arbeiterwohlfahrt) in Burgdorf, einer Kleinstadt bei Hannover, und lässt den Blick kurz durch den Raum schweifen. Seit knapp drei Monaten lebt sie hier mit ihrem fünfjährigen Sohn. Das Zimmer ist hell, warm und auch ganz nett eingerichtet, findet sie. “Aber es sind halt alles nicht meine Sachen. Das ist nicht mein Leben.” Möbel, Bettwäsche, Handtücher, Bücher, selbst ihre Kleidung und die ihres Sohnes: Alles haben die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses für sie organisiert.

Die Einrichtung ist nach einem in Deutschland noch neuen Modell konzipiert, angelehnt an die niederländischen “Oranje Huizen”: Anders als bei den meisten Frauenhäusern ist die Adresse nicht geheim; statt die Schutzsuchenden zu isolieren, setzt man hier darauf, sie in einem sicheren, aber sichtbaren Umfeld zu unterstützen.

“Seit Mitte der 1970er-Jahre in Berlin das erste deutsche Frauenhaus eröffnet wurde, galt die Geheimhaltung der Adresse als wichtigstes Mittel zum Schutz der Opfer”, sagt Katharina Krüger. Die 31-Jährige hat bei der AWO Region Hannover den Bereich “Frauen” und auch diese Einrichtung aufgebaut. Da die Bewohnerinnen niemandem von ihrem Versteck erzählen durften, mussten sie Kontakte abbrechen, ihre Jobs aufgeben, und – weil die Kapazitäten so begrenzt sind – oft den Ort oder sogar das Bundesland wechseln. Die Kinder verließen die vertrauten Schulen oder Kindergärten. Die Isolation, die zum Schutz gedacht war, führte häufig zu neuen Belastungen. Zwar gibt es bundesweit 7786 Plätze in Schutzunterkünften für Frauen und ihre Kinder, der Bedarf ist geschätzt aber fast dreimal so hoch.

Zwölf Frauen und 15 Kinder leben in dem Haus in Burgdorf. Sie kommen aus verschiedenen Ländern und Kulturen, manche sind Akademikerinnen, andere Analphabetinnen. Einige haben mehrere Kinder, andere keine. Was sie verbindet: die Gewalterfahrungen – und der Verlust von beinahe allem, was ihnen lieb war.

Da ist Darya, die jüngste Bewohnerin, deren älterer Bruder ihren Kopf immer wieder gegen eine Wand schlug, ohne dass ihre Eltern eingriffen. Als die 18-Jährige aus dem Krankenhaus kam, drohte er ihr, sie umzubringen, wenn sie ihre Ausbildung fortsetzen würde, weil sie dort mit Männern, ihren Kollegen, in Kontakt kommt. Renate, eine Rentnerin, wurde hinter der Fassade eines gepflegten Vorstadthauses jahrelang von ihrem Mann verprügelt. Als der starb, hatte das Leid trotzdem kein Ende, weil ihr erwachsener Sohn einzog und weitermachte.

“Wenn Frauen sich aus einer gewalttätigen Beziehung oder einem gewalttätigen Umfeld befreien, werden sie oft ein weiteres Mal traumatisiert”, erklärt Katharina Krüger. “Sie werden sozial isoliert, weil sie abtauchen müssen.” Für die Täter-Männer hingegen ändert sich wenig. Auch dort, findet Krüger, müsse man ansetzen. Warum werden sie nicht aus der Wohnung und in ein Männerhaus gewiesen, wie es etwa in Frankreich möglich ist? Warum muss die Frau ihr Leben verändern? “In der Schweiz wird beispielsweise mithilfe einer elektronischen Fußfessel sichergestellt, dass der Täter sich einer Frau nicht nähern kann.”

Katharina Krüger wirkt entschlossen, sie zeigt ihr Gesicht offen, auch in den Medien. “Klar, ich bin für viele Männer ein Hassobjekt, in Diskussionen treffe ich immer wieder auf Unverständnis und Abwehr, wenn Rechte von Frauen gestärkt werden sollen. Aber das halte ich aus.” Sie hat Internationale Soziale Arbeit und Entwicklung studiert, mehrfach im Ausland für Frauenrechtsorganisationen gearbeitet. “Unsere Einstellung, dass in Europa und Deutschland alles optimal läuft, lässt uns manchmal an veralteten Konzepten festhalten, obwohl es zeitgemäßere Ansätze gibt, wie etwa die Integration der Betroffenen in die Gesellschaft statt ihre Isolation in anonymen Unterkünften.”

Das Frauenhaus Burgdorf, ein weiß getünchtes Gebäude, steht mitten in einer Wohnsiedlung nahe dem Stadtzentrum, der Bus hält direkt vor der Tür. Jedes Zimmer hat ein Bad, im Erdgeschoss gibt es Gemeinschaftsräume: Spielzimmer, Fernsehraum, große Küche und Esszimmer. Frauen und Kinder können nach Absprache mit den Mitarbeiterinnen Besuch einladen. “Das bringt ein Stück Normalität zurück”, sagt Katharina Krüger. Das bräuchten die Frauen dringend, um wieder in Alltagsstrukturen zu finden.

Viele der Betroffenen haben bereits während der Gewaltbeziehung Isolation erlebt. “Die Täter manipulieren und demütigen die Frauen jahrelang, missbilligen den Kontakt zu Freundinnen, Verwandten und Bekannten und verbieten ihn irgendwann”, so Krüger. Wenn Täter das erste Mal körperliche Gewalt ausüben, haben die Frauen kein Netzwerk mehr und sind auf sich gestellt.

Sabrina ging es ähnlich. “Ich habe alle Red Flags ignoriert”, sagt die 28-Jährige. Kurz nachdem sie ihren Partner online kennengelernt hatte, schlug er ihr vor, zusammenzuziehen. Sie hatte bereits zwei Kinder, acht und fünf Jahre alt. Ihr Partner überzeugte sie davon, dass sie erst mal Zeit zu zweit haben müssten, sie die Kinder zu ihrer Mutter geben sollte. Sabrina kündigte ihren Job als Kellnerin. “Er wollte, dass ich mich auf den Haushalt konzentriere, und verdiente auch genug.” Er verlangte, dass er bei ihr “die Nummer eins” sein und sie Kontakte zu anderen einschränken sollte. “Als er anfing, grob zu werden, habe ich mich geschämt”, sagt Sabrina. Hatte sie etwas falsch gemacht? Oder war der neue Traumtyp ein Albtraum? Wem sollte sie sagen, dass sie schon wieder “einen Griff ins Klo” gemacht hatte? “Ich habe einfach gehofft, dass es wieder so schön wie am Anfang werden würde. Auch dann noch, als er mich geschlagen hat.”

Das offene Frauenhaus Burgdorf ist stets voll belegt. Kaum wird ein Zimmer frei, zieht eine neue Bewohnerin ein. “Niedersachsenweit gibt es ein Ampelsystem, bei dem für alle Frauenhaus-Mitarbeitenden angezeigt wird, wo Plätze frei sind”, erklärt Katharina Krüger. “Aber es gibt auch Zeiten, da gibt es einfach nirgends einen freien Platz.” Ihr Anliegen: Die Gesellschaft soll hinschauen und begreifen, was sich oftmals in direkter Nachbarschaft abspielt. Die offenen Frauenhäuser sind ein Schritt, um mit dem Tabu zu brechen. “Es muss ein Bewusstsein dafür entstehen, wie viele Frauen unter häuslicher Gewalt leiden.”

Immerhin gewinnt das Modell an Bedeutung: In Schleswig-Holstein gibt es bereits ähnliche Neugründungen, weitere Frauenhäuser überlegen, die Anonymität aufzugeben. In Burgdorf jedenfalls weiß man, wer hier wohnt. Und warum. Bei der Eröffnung 2022 war die Nachbarschaft eingeladen, einmal im Jahr gibt es einen Tag der offenen Tür. “Wir haben ein Auge darauf, dass hier keiner rumschleicht und Mist macht”, hat ein Nachbar beim letzten Mal gesagt. Diese Form der sozialen Kontrolle ist erwünscht, doch darauf verlässt sich hier natürlich niemand. Auch bei diesem Konzept steht der Schutz der Bewohnerinnen an erster Stelle.

Ein großer Zaun schirmt das Gebäude ab, der Eingang ist zweifach gesichert. Bei der zuständigen Polizeidienststelle gibt es eine ständige Rufbereitschaft. “Bislang war aber kein Polizeieinsatz nötig”, so Krüger. Zudem findet vor jeder Aufnahme eine Gefährdungs- und Risikoanalyse mit der neuen Bewohnerin statt. “Wir analysieren, wie stark die Gewaltspirale schon ausgeprägt ist, und welche Gewalt angewandt wurde. Wir klären ab, ob es sich um organisierte Gewalt handelt. Wenn wir es zum Beispiel mit einer religiösen Sekte oder einem Clan zu tun haben, dann kann ein nicht-anonymes Konzept nicht den Schutz bieten, den die Frau braucht.”

In solchen Fällen oder wenn Frauen sich aufgrund der Sichtbarkeit unsicher fühlen, vermitteln die Mitarbeitenden der Einrichtung sie an ein anonymes Frauenhaus weiter.

Bisher kam es in Burgdorf zu keinen schwerwiegenden Zwischenfällen. Es gab mal Ex-Partner, die vor dem Haus warteten, aber sie wurden nicht gewalttätig. Manche Täter versuchen, sich mit Blumen zu entschuldigen oder sich bei ihren Partnerinnen einzuschmeicheln. “Bisher ließen sie sich wegschicken”, sagt Krüger.

Für Sabrina ist das offene Frauenhaus genau richtig, weil sie hier ihre Selbstständigkeit zurückzuerobern kann und zu jeder Tages- und Nachtzeit eine Ansprechpartnerin hat, wenn es ihr schlecht geht, sie Organisatorisches erledigen muss, rechtliche Infos braucht oder pädagogische Ratschläge. Die Mitarbeiterinnen helfen ihr bei Anträgen und Formularen. Und bei der Suche nach einer Wohnung für sich und ihre Kinder.

“Die Aufenthaltsdauer der Frauen variiert je nach individueller Situation. Einige bleiben nur ein paar Wochen, da sie schnell eine neue Wohnung in Aussicht haben. Andere benötigen monatelang eine Betreuung und Unterstützung, um sich wieder ein eigenständiges Leben aufzubauen”, sagt Katharina Krüger.

Sabrina hat keinerlei Kontakt mehr zu ihrem Ex-Partner, sie hat ihn angezeigt. Er weiß, wo sie lebt, hat sich aber nie bei ihr gemeldet. “Er hat behauptet, ich hätte mir das alles eingebildet”, sagt sie. Sie ist in Therapie, will die Vergangenheit aufarbeiten. Und in Zukunft weniger gutgläubig sein. Ein cholerischer Mann, das weiß sie heute, wird kein liebevoller Partner sein, sondern irgendwann auch ihr gegenüber ausfallend werden. Und ein Mann, der sie kontrolliert, tut das nicht aus Liebe.

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