Projekt Femizide stoppen: Sie zählen Femizide, um auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen

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Saskia und Lilly verloren eine Freundin durch einen Femizid. Um die schreckliche Tat zu verarbeiten und auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen, haben sie einen Instagram-Account gegründet, der Femizide in Deutschland zählt.  

Kürzlich wurde bekannt, dass die ugandische Marathonläuferin Rebecca Cheptegei von ihrem Ex-Freund mit Benzin angezündet wurde und ihren Verletzungen erlegen ist. In Berlin wurden vergangene Woche zwei Frauen erstochen – unter Verdacht stehen die Ex-Partner. Es vergeht kein Tag in Deutschland, an dem ein Mann nicht versucht, seine Partnerin (oder Ex-Partnerin) zu töten. Jeden zweiten Tag gelingt es ihm. 

Bundesfamilienministerin Lisa Paus äußert sich zu den sich anhäufenden Taten entschlossen. Sie möchte Betroffene besser schützen. “Unser Land hat ein massives Gewaltproblem gegen Frauen. Das muss aufhören”, sagte die Politikerin in Berlin. “Wir brauchen nicht nur ein Sicherheitspaket gegen terroristische Messerstecher, sondern auch für die Prävention und den Schutz von Frauen vor Gewalt.”

Zwei Frauen, eine Mission

Die zunehmenden Tötungen an Frauen beschäftigen auch die Freundinnen Lilly S. und Saskia A. Die beiden führen den Instagram-Account “femizide_stoppen”, auf dem sie die Morde zählen und so auf geschlechtsspezifische Gewalt aufmerksam machen wollen. 

BRIGITTE: Auf eurem Instagram-Account zählt ihr Femizide in Deutschland. Wieso?

Saskia und Lilly: Wir haben im November 2021 unsere Freundin Derya (24) durch einen Femizid verloren. Der Täter Anil G. tötete außerdem auch den gemeinsamen Sohn Kian (4). Das war sehr schlimm für uns. 

Schrecklich. Was ist passiert?

Derya wollte, dass Kian seinen Vater kennenlernt. Dieser wusste lange nicht, dass Kian sein Sohn ist – und wollte auch nicht, dass andere davon erfahren. Der Täter hat Derya und Kian abends im Dunkeln zu einem abgelegenen Ort in Köln geführt und sie dort erstochen und danach in den Rhein geworfen. Derya wurde am nächsten Morgen gefunden, Kian zunächst noch vermisst. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass jemand ein kleines Kind ermordet. Einen Tag später wurde Kian dann weiter stromaufwärts ausfindig gemacht. Niemand sollte solch einen Tod erleiden müssen und niemand sollte so einen Verlust erleben müssen.

Euer Instagram-Account ist also eine Erinnerung an eure Freundin?

Wir haben damals online nach einer Einordnung dieser Tötung und nach Solidarität mit uns als Hinterbliebenen gesucht, wurden aber nicht wirklich fündig. Stattdessen sind wir auf Instagram auf Zählungen und Veröffentlichungen von geschlechtsspezifischen Tötungen anderer Länder gestoßen und fanden das Konzept sehr eindrücklich. Die fehlende öffentliche Einordnung in Kombination mit dem Bedürfnis, irgendwas tun zu müssen, hat dann dazu geführt, dass wir mit Beginn des Jahres 2022 angefangen haben, Femizide in Deutschland zu zählen.

Was wollt ihr damit erreichen?

Wir wollen ein Bewusstsein für das Ausmaß geschlechtsspezifischer Gewalt schaffen, deren höchste Stufe der Femizid ist. In Deutschland tötet jeden zweiten Tag ein Mann seine (Ex)-Partnerin, und jeden Tag versucht es einer. Wir ordnen diese Tötungen ein, um zu zeigen, dass sie keine Einzelfälle sind, sondern das Resultat einer frauenfeindlichen, patriarchalen Gesellschaft.

Seid ihr vor allem durch den erweiterten Femizid an Derya und Kian sensibilisiert worden oder waren euch die Ausmaße geschlechtsspezifischer Gewalt schon vorher bewusst?

Alltagssexismus, Belästigung usw. kennen wir wahrscheinlich alle. Dass diese Gewalt gegen Frauen auch höhere Stufen wie häusliche Gewalt, Vergewaltigung und sogar Mord erreichen kann, war uns bekannt. Allerdings waren diese Formen der Gewalt bisher nie wirklich präsent in unseren Leben und wir hätten auch nie gedacht, dass wir solcher Gewalt jemals begegnen würden.

Was fühlt ihr, wenn ihr eine Kachel postet, die einen weiteren Femizid vermeldet? Stumpft man irgendwann ab?

Anfangs war es recht belastend für uns. Das Ausmaß, die Häufigkeit von Gewalt gegen Frauen, war uns nicht bewusst. Mittlerweile belastet uns das Recherchieren und Lesen der Artikel meist nicht mehr, zumindest nicht bewusst. Wenn es um Fälle geht, die dem erweiterten Femizid an Derya und Kian (Anmerkung der Redaktion: erweitert deshalb, weil der Täter neben Derya auch noch den Sohn getötet hat) ähneln, sind wir doch noch immer schockiert. Das geht uns nah. 

Gibt die Arbeit auch Kraft?

Ja, weil die Zustände nicht untätig hinzunehmen. Wir haben so das Gefühl, nicht machtlos zu sein, sondern können Aufmerksamkeit schaffen und für Femizide sensibilisieren und uns solidarisch mit Hinterbliebenen zeigen.

Der Account nimmt mit Sicherheit viel Zeit in Anspruch. Habt ihr das Gefühl, dass es das wert ist?

Ja und ja. Mittlerweile erreichen wir mit unseren Posts wirklich viele Leute und der Begriff “Femizid” wird immer präsenter und somit auch die Anerkennung, dass diese Tötungen eben geschlechtsspezifisch sind und System haben. Der nächste Schritt ist, gegen dieses System vorzugehen, sodass irgendwann keine Femizide mehr begangen werden.

Das beginnt beim Benennen von alltäglichem Sexismus, geht über gleiche Bezahlung im Job bis hin zu einer gerechten Verurteilung von Femiziden vor Gericht ( Anmerkung der Redaktion: oft werden Femizide milder bestraft als vergleichbare Tötungen, die nicht geschlechtsspezifisch sind). Wir können alle dazu beitragen, dass es ein gesellschaftliches Umdenken gibt!

Alle zwei Tage wird eine Frau in Deutschland durch ihren Partner oder Ex-Partner getötet, dennoch passiert so wenig. Woran liegt das eurer Meinung nach?

Gute Frage. Wahrscheinlich ist die gesellschaftliche Empörung so gering, weil Gewalt gegen Frauen so normalisiert und allgegenwärtig ist. Wenn Frauen in der Öffentlichkeit vor Publikum oder Freunden abgewertet werden können und das auch noch als Unterhaltung wahrgenommen wird, dann schockiert es wahrscheinlich nicht, wenn diese Abwertung im Privaten auf höherer Stufe weiter ausgelebt werden.

Was bräuchte es?

Mehr Geld für Frauenhäuser, Täterarbeit, Schulung von Polizei und Justiz, bezahlbaren Wohnraum für Frauen, die sich von gewalttätigen Partnern trennen wollen. Die Maßnahmen werden trotz rechtsgültiger Istanbul-Konvention bisher nicht ausreichend umgesetzt. Warum dem so ist, können wir uns auch nicht erklären.

Wie ist die Polizei im Falle eurer gemeinsamen Freundin vorgegangen? 

Zu Beginn hatten wir die Befürchtung, dass das Urteil mild ausfallen würde, z. B. aufgrund einer Romantisierung von solchen Tötungen vor Gericht. Außerdem hat es sich um einen Indizienprozess gehandelt. Es gab also bis zum vorletzten Gerichtstermin kein Geständnis des Täters und auch keine Tatzeugen oder sichere Beweise. Die Polizei konnte aber durch ihre Arbeit relativ sicher zeigen, dass Anil G. der Täter gewesen sein musste. Vermutlich hat er deswegen vor der Urteilsverkündung auch noch gestanden. Das Geständnis war auch für uns persönlich wichtig, um Gewissheit zu haben. Die Richter:innen haben ihn dann wegen doppelten Mordes mit besonderer Schwere der Schuld zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Das ist das höchste Urteil in Deutschland.

Eurem Account folgen hauptsächlich Frauen. Dabei müsste die Botschaft doch gerade in die Männerwelt getragen werden. Was tun?

Viele Frauen kennen es aufgrund ihres Geschlechtes diskriminiert zu werden und können Femizide als eine systematische Gewalt anerkennen. Viele Männer profitieren von diesem patriarchalen System. Sich selbst und die eigenen Freunde zu hinterfragen und Privilegien abzugeben, ist unbequem. Aber notwendig. Wenn wir Femizide stoppen wollen, müssen wir alle dazu beitragen, dass alle Menschen als gleichwertig angesehen werden, dass Besitzansprüche abgebaut werden und dass bereits die frühen, aber dafür weit verbreiteten Formen der Gewalt, die aber höheren Gewaltstufen den Weg ebnen, bekämpft werden.

Source: Aktue