Rekalibrierungstheorie: Warum wir wütend sein müssen, um uns glücklich zu fühlen

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Wut ist unterbewertet, sagt der amerikanische Psychologie-Professor Kevin Bennett. Wie das ungeliebte Gefühl uns glücklich machen kann und inwiefern es uns als Gesellschaft nützt.

Von den gängigen, allgemein bekannten Gefühlen stresst mich Wut am meisten. Wütende Menschen machen mir Angst. Wutbürger irritieren mich. Und mit meiner eigenen Wut fühle ich mich unwohl. Vermutlich schlägt das Gefühl deswegen meist rasch in Bedrückung oder Traurigkeit bei mir um: Wütend kennt mich eigentlich niemand, am wenigsten ich mich selbst.

Ein Stück weit mag meine Wutphobie mit meinem Geschlecht zusammenhängen: Brave Mädchen zeigen sich nicht wütend, haben wir in unseren patriarchalen Gesellschaften eine Ewigkeit lang gelernt. Sie reißen sich zusammen, lächeln freundlich, weinen vielleicht hin und wieder, wenn es sein muss.

Dieser Glaubenssatz, wissen wir heute, fördert und stabilisiert das Patriarchat, während er Frauen in ihrer Nebenrolle ruhig hält. Die sogenannte Rekalibrierungstheorie erklärt, inwiefern.

Wut motiviert, uns gegen Ungerechtigkeit zu wehren

“Wut fungiert als Rekalibrierungsmechanismus”, schreibt Kevin Bennett, Psychologie-Professor an der Penn State University, in einem Artikel für “Psychology Today”. Sie signalisiere uns, wenn uns etwas oder jemand daran hindere, unsere Ziele zu verfolgen oder unsere Ansprüche und Erwartungen zu erfüllen. Zudem treibe sie uns dazu an, etwas gegen die Hindernisse zu unternehmen, uns zu wehren. “Wut hat einen evolutionären Sinn, nämlich Individuen dazu zu motivieren, gegen wahrgenommene Ungerechtigkeit und Verletzung sozialer Normen vorzugehen“, so der Experte. Rekalibrierung bedeutet in diesem Zusammenhang also Wiederherstellung eines gerechten, störungsfreien Zustandes, in dem sich Individuen fair behandelt und frei fühlen. Wut zu empfinden und darauf zu reagieren, bildet gemäß dieser Theorie letztlich eine Voraussetzung für ein zufriedenes Leben.

Rekalibierungssensibilität: Wann wir uns wie wütend fühlen

Im Sinne der Rekalibrierungstheorie dürften oder müssten wir uns beispielsweise wütend fühlen, wenn wir weniger verdienten als ein Arbeitskollege, der dem gleichen Job nachgeht wie wir. Wenn wir für etwas bestraft oder verurteilt würden, mit dem andere Menschen davonkommen, für das sie vielleicht sogar Lob und Achtung erhalten. Wir können uns wütend fühlen, wenn uns jemand nicht gibt oder machen lässt, was wir wollen, und wenn wir selbst etwas nicht schaffen, das wir uns vorgenommen hatten. Wann immer uns etwas im Weg steht, dürfe Wut in uns aufkommen. Allerdings variiere im Idealfall ihre Intensität.

“Eines der Schlüsselelemente der Rekalibrierungstheorie ist das Konzept der ‘Rekalibierungssensibilität'”, schreibt Kevin Bennett. Menschen zeigten sich unterschiedlich empfindlich, wenn es um das Erleben von Wut geht. Während sich einige schon bei kleinsten wahrgenommenen Ungerechtigkeiten übermäßig wütend fühlten – “meine Eiskugel ist kleiner als deine” –, spürten andere die Emotion erst bei schweren Benachteiligungen. Abhängig sei diese Sensibilität unter anderem von der genetischen Veranlagung, Erfahrungen, Erziehung und kulturellen Faktoren, so der Psychologe.

Wut konstruktiv ausleben

Damit uns unsere Wut zu Handlungen motiviert, die Ungerechtigkeiten ausgleichen – die unsere Welt rekalibrieren –, genüge es laut Kevin Bennett nicht, die Emotion einfach nur zu spüren. Unkontrolliert könne Wut zu Aggression und Gewalt führen, in den wenigsten Situationen eine sinnvolle Lösung für Probleme. Der Wissenschaftler empfiehlt Achtsamkeitsübungen, Meditation oder bewusstes Atmen, um die aufputschende Energie des Zorngefühls in emotionalen Situationen abflauen zu lassen. Sobald wir über unsere Wut hinweg klar denken könnten, gelte es, uns zu fragen, was das Gefühl in uns ausgelöst hat, wie berechtigt es in seiner Intensität ist und was anders sein müsste, damit wir uns nicht wütend fühlen. Von diesem Punkt aus könnten wir nach Lösungen suchen.

Ein entscheidender Aspekt der Rekalibrierungstheorie besteht darin, dass sie Wut als Emotion mit einer antreibenden, motivierenden Kraft behandelt. Diese Eigenschaft unterscheidet Wut von Gefühlen wie Trauer, Enttäuschung oder Angst, die uns eher lähmen und uns still verhalten lassen. Und diese Facette der Wut gilt als zuverlässig belegt: In einer Studie, die 2023 im “Journal of Personality and Social Psychology: Attitudes and Social Cognition” veröffentlicht wurde, zeigten Forschende, dass Wut uns in bestimmten Situationen beflügeln kann, Ziele zu erreichen. Im Rahmen der Untersuchung sollten die Versuchspersonen beispielsweise schwere Puzzles zusammensetzen. Fühlten sie sich wütend, gelang ihnen das besser als im nicht emotionalen Zustand. Bei einfachen Puzzels brachte Wut wiederum nichts. Anscheinend kann uns das Gefühl vor allem für anspruchsvolle Herausforderungen Kraft geben – an denen wir traurig vielleicht scheitern würden.

Gestatten wir uns, wütend zu sein

Die Rekalibrierungstheorie kann einerseits mir erklären, inwiefern mir meine Wutphobie schaden kann: Sie verhindert, dass ich kraftvoll für mich einstehe. Sie bewirkt, dass ich eher den Kopf einziehe, wenn ich denke, dass mich jemand ungerecht behandelt, anstatt dass ich laut werde.

Andererseits verdeutlicht die Theorie, warum in einer Gesellschaft keine Gerechtigkeit herrschen kann, in der eine bestimmte Gruppe von Menschen – zum Beispiel Frauen – gelernt hat, ihre Wut zu unterdrücken: weil sich diese Gruppe nicht wehren wird. Weil sie sich von der Wut der anderen Gruppe einschüchtern lässt und Ungleichgewicht nicht korrigiert. Wildgewordener, ungezügelter, unberechtigter Wut und Aggression können wir sicher keinen Platz einräumen. Doch uns dagegen wehren können wir kaum mit Angst oder Erschütterung. Kultivierte Wut für alle – ob das wirklich sämtliche Missstände gerade richten würde? Ich kann nicht versprechen, dass ich mich von heute auf morgen ändere. Aber meine Wut zu kultivieren, probiere ich auf jeden Fall aus.

Source: Aktue