Abwarten oder handeln?: Wenn die Farbe aus deinem Leben verschwindet

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Den Begriff Anhedonie kennen wenige, das Gefühl sicher viele. Wenn nichts mehr Freude bereitet, kann das ein Symptom einer Depression sein, muss es aber nicht. Eine Fachfrau erklärt die Umstände.

“Ach nö, keine Lust.” Das Gefühl kennen wir sicher alle. Dann starren wir zu Hause Löcher in die Luft und sagen der Freundin ab. Es gibt solche Phasen. Das ist okay, einige feiern sogar den Zustand, sich nicht länger von FOMO, der Angst, etwas zu verpassen, drangsalieren zu lassen. Ich kann etwas unternehmen – muss ich aber auch nicht. Anhedonie hingegen ist etwas anderes, Quälenderes.

3 Anzeichen einer Anhedonie

Anhedonie (vom griechischen “an” =  nicht, “hedone” = Lust) bezeichnet die Unfähigkeit, Freude, Lust oder Vergnügen zu empfinden – auch an Dingen, Situationen oder Unternehmungen, die einem früher viel Spaß gemacht haben. 

Bei einer Anhedonie beschreiben Betroffene ihren Zustand als innerlich leer, vollständig taub. Oder es fühlt sich so an, als ob die Farben aus der Welt verschwinden und alles nur noch grau erscheint. Die britische Journalistin Annalisa Barbieri, Kummerkastentante bei The Guardian, zeichnet in einem Beitrag von sich das Bild einer überfahrenen, plattgewalzten Comicfigur, wenn sie die Anhedonie überkommt. Da wäre nur noch ihre Hülle, sie könne einfach gar nichts mehr fühlen.

Nun gibt es Leute,die denken: Wenn man nichts fühlt, kann auch nichts wehtun. Das stimmt natürlich, aber dieses absolute Fehlen von Freude und Genuss fühlt sich eindeutig falsch an. Ein anhedoner Zustand ist nicht bloß ein abgesagtes Date mit der Freundin, ein gelegentliches Einigeln. Vielmehr bedeutet es den zumindest zeitweisen Verlust dessen, was uns glücklich machte und macht.

“Anhedonie ist ein Symptom der Depression, aber keine eigene Erkrankung” 

Im Interview mit BRIGITTE.DE erklärt Dr. Sabine Köhler, niedergelassene Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie aus Jena und Vorsitzende des Berufsverbands Deutscher Nervenärzte, dass die Anhedonie für sich genommen keine Depression ist. “Das fehlende Vermögen Freude zu empfinden ist sehr häufig ein Symptom psychischer Störungen. Es ist aber keine psychische Erkrankung”, betont die Expertin.

“Bei einer Depression müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein, dazu gehören zum Beispiel Anhedonie, fehlender Antrieb, manchmal auch wahnhafte Gedanken, suizidale Gedanken. Das sind alles Einzelsymptome, die zusammengenommen auf die Diagnose Depression schließen lassen”, sagt Dr. Sabine Köhler. “Es kommt aber noch ein zeitlicher Faktor hinzu. Wenn also über einen Zeitraum von zwei Wochen Anhedonie und andere Symptome mit gewisser Schwere andauern, dann stellen wir die Diagnose.”

Ein Warnsignal, genauer hinzuschauen

Anhedonie kann auch allein auftreten und ist nicht unbedingt oder immer behandlungsbedürftig. Zum Beispiel nach einem Ereignis wie einer Trennung oder dem Jobverlust ist es mitunter eine normale Trauer-Reaktion unserer Psyche. In der Regel vergeht dieser Zustand mit der Zeit und die Lebensfreude kehrt Schritt für Schritt zurück. 

Zwar gilt laut Dr. Köhler bei der Anhedonie nicht der Zeitfaktor von zwei Wochen, ob sie behandlungswürdig ist. Doch tritt dieser Zustand immer wieder auf, vielleicht immer häufiger, auch ohne vorherigen Anlass, könnte es durchaus sinnvoll sein, mit ärztlicher Hilfe nach tieferliegenden Ursachen zu forschen, warum man immer wieder in so tiefe Löcher fällt.

Das rät die Expertin

Wie wir wissen, sind Menschen verschieden. Manche neigen dazu, eher pessimistisch auf die Welt und das Leben zu blicken, andere haben eine optimistischere Grundhaltung. Manche Menschen sind jederzeit begeisterungsfähig und fröhlich, andere tendieren zu einer flacheren Emotionskurve und dem Grüblertum. Was uns aber eint ist die Aufgabe, Verantwortung dafür zu übernehmen, dass es uns gut geht. Unsere Bedürfnisse ernst zu nehmen, unter Umständen zu reagieren und bestimmte Stellschrauben zu drehen.

So gilt es sich zu fragen, ob man gut auf sich und seine Körpersignale achtet. Dr. Sabine Köhler empfiehlt, geduldig kleine Veränderungen vorzunehmen im Alltag. Das können so belanglos klingende Dinge sein, wie zum Beispiel sich eine Kerze anzünden, um sich ein schönes Umfeld zu schaffen oder sich regelmäßig eine Tasse Tee aufzubrühen. Sich selbst also immer wieder Wertschätzung entgegenzubringen. “Es kommt darauf an, immer wieder kleine Genussmomente bewusst zu erleben”, sagt die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie.

Es ist auch denkbar, dass äußere Umstände oder Veränderungen der Lebenssituation dazu beitragen, dass man Freude an Dingen verliert. Dr. Köhler: “Wenn ich zum Beispiel immer gerne in die Kletterhalle gegangen bin, merke, dass es mir einfach keinen Spaß macht, wenn neuerdings die Kinder dabei sind oder mein Partner, dann hilft es, diese Wahrnehmung ernst zu nehmen und mit den Kindern oder dem Partner eben andere gemeinsame Dinge zu unternehmen, und sich so die Freude am Klettern zurückzuholen.”

Wie bei einer diagnostizierten Depression sollten sich Angehörige allerdings auch in anhedonen Phasen mit Ratschlägen à la “Jetzt reiß dich doch mal zusammen” zurückhalten. Das verstärkt das Leiden häufig noch, weil die Betroffenen die Freude ja nur zu gerne wieder empfinden würden, es aber gerade nicht können. Andererseits weiß die Expertin, dass ein “Komm doch mit, wenn du erstmal dabei bist, kommt die Freude sicher wieder” auch dazu führen kann, dass liebe Menschen einem aus dem Zustand heraushelfen und sich deren Vorhersage tatsächlich erfüllt.

Popkultur-Wissen zum Schluss

Der Film “Der Stadtneurotiker” (im Original “Annie Hill”), der erste große Erfolg Woody Allens im Jahr 1977, sollte ursprünglich unter dem Titel “Anhedonia” in die Kinos kommen. Allen benannte ihn erst kurz vor Veröffentlichung um, weil er nach dem Dreh bemerkte, dass nicht seine Rolle des labilen Mannes, der an nichts Freude empfindet, sondern die weibliche Figur zentraler sei. Und außerdem fand das Studio den Begriff zu sperrig. 

Auch wenn viele von uns schon anhedone Phasen erlebt haben, die Bezeichnung kennen eben meist nur Fachleute.

Source: Aktue