Expertin über Vergewaltigungsfall von Avignon : "Die Scham muss die Seite wechseln"

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Der Prozess zur massenhaften Vergewaltigung in Avignon geht in die vierte Woche. Bei der BRIGITTE-Pressekonferenz nimmt eine Expertin dazu Stellung. 

Ein Mann betäubt seine Frau mit einer Überdosis Schlafmittel und bietet sie dann im Netz zur Vergewaltigung an. Das ist leider keine ausgedachte Horror-Geschichte, genau das ist in Avignon, in Frankreich, geschehen. Der Fall, bei dem der Angeklagte Dominique Pelicot seine Ehefrau Gisèle Pelicot über Jahre hundertfach von mehr als 50 Männern vergewaltigen ließ, geht gerade in die vierte Prozesswoche. 

Im Rahmen der Pressekonferenz zur BRIGITTE-Studie “Generation Wir” hat die Soziologin, Geschlechterforscherin und Studienbegleiterin Prof. Dr. Paula-Irene Villa-Bravlavsky mit den Zuschauer:innen über das grausame Gewaltverbrechen gesprochen. Aus den Fragen wird deutlich, dass der Fall – und insbesondere der Mut der missbrauchten Frau, diesen so öffentlich auszutragen – bewegt. 

Der Fall von Avignon 

“Ich bin ein Vergewaltiger.” Mit diesen Worten hat der Strippenzieher der massenhaften Vergewaltigung an seiner Frau bereits zu Prozessbeginn Anfang September die Taten bestätigt. Tagsüber arbeitete der mittlerweile pensionierte Familienvater als Elektriker, nachts suchte er nach Männern, die seine Frau vor seinen Augen vergewaltigen sollten. Und die fand er. Schockierend, aber überraschend? Eher nicht. Der Fall von Avignon zeigt: Wir können die Verantwortung nicht nur auf einen einzelnen Mann, den vermeintlichen “Verrückten” oder den “Psychopathen” abwälzen. 

“Wir sehen es hier klar und deutlich. Es ist der ganz normale Nachbar von nebenan und der Lehrer und der Sohn”, bestätigt Prof. Dr. Villa-Braslavsky. Deswegen müssten Männer endlich lernen, dass sie – wenngleich nicht unmittelbar der Vergewaltiger – dennoch Teil dieser Strukturen sind. “Sie sehen, was passiert, sie sehen, was ihre Kollegen machen, sie sehen, was in der Kneipe geschieht. Sie müssen sich endlich mitverantwortlich fühlen”, fordert die Expertin. 

“Männer müssen sich endlich mitverantwortlich fühlen”

Die Dunkelziffer bei häuslicher Gewalt ist hoch, denn sie geschieht im Privaten, oftmals gelangen Übergriffe nicht an die Öffentlichkeit – so auch zunächst im Fall von Avignon. Dominique Pelicot steht aus einem einzigen Grund vor Gericht: Ein aufmerksamer Wächter eines Einkaufszentrums hatte bemerkt, dass der 71-Jährige heimlich Frauen unter die Röcke und Kleider filmte. Daraufhin durchsuchte die Polizei seinen Computer und fand Bildmaterial der nun verhandelten, grausamen Verbrechen. Der Fund der Fotos und Videos bleibt dabei reiner Zufall – Gisèle Pelicot war bei den Taten nicht bei Bewusstsein. 

Auf die Frage, ob der Fall zu einem Stimmungswandel im Bezug auf sexualisierte Gewalt führen könnte, antwortet die Expertin mit klaren Worten: “Ich denke schon”, sagt Villa-Bravlavsky, “jedoch finde ich auch, dass zumindest in Deutschland verhältnismäßig wenig darüber berichtet wird.” Wenn es getan werde, habe sie das Gefühl, dass eine angemessene Skandalisierung stattfinde – “soll heißen, es wird nichts verharmlost oder obszön sexualisiert”, sagt Villa-Bravlavsky. Stattdessen werde deutlich, dass es sich um ein grausames Gewaltverbrechen handele. “Das schafft natürlich Bewusstsein für das Problem ‘sexualisierte Gewalt gegen Frauen’.”

“Die Scham muss die Seite wechseln”

Dennoch ist die treibende Kraft erneut die Frau, die im Prozess unglaublichen Mut beweist und sich nicht unterkriegen lässt. “Die Scham muss die Seite wechseln”, findet Villa Bravlavsky und erklärt: “Das ist ein alter feministischer Slogan aus der zweiten Frauenbewegung in Frankreich.” Man würde sich wünschen, der Spruch sei mittlerweile überholt. Doch davon kann keine Rede sein. 

Oftmals werden Opfer von sexualisierter Gewalt unsäglichen Befragungen ausgesetzt, die sogar retraumatisierend sein können. Ihnen wird nicht geglaubt, ihnen wird unterstellt, sie seien lediglich auf Aufmerksamkeit aus; sie müssen aussagen, wie sie gekleidet waren und ob sie den Täter nicht herausgefordert hätten. In vielen Fällen werden die Verfahren dann wegen angeblich zu geringer Beweislage eingestellt. Deswegen ist es so wichtig, dass Übergriffe angezeigt werden. Erst wenn die vielen Fälle in der Statistik auftauchen und die Politik das Problem erkennt, ändert sich (hoffentlich) etwas. 

Source: Aktue