Abtreibungs-Paragraf 218: "Ich fühlte mich wie eine Verbrecherin"

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Frauen wird immer noch das Recht genommen, frei über ihren Körper zu entscheiden: Abtreibung ist laut Paragraf 218 eine Straftat. Wie sich das anfühlt, berichten drei Frauen, die abgetrieben haben. 

“Ich fühlte mich wie eine Verbrecherin, die nach heißer Ware fragt”, sagt Nathalie, eine der drei Frauen, die ihre Abtreibungsgeschichte mit uns teilen. Dafür verantwortlich ist Paragraf 218 des Strafgesetzbuchs (StGB), der unter dem Abschnitt “Straftaten gegen das Leben” steht, in dem auch Mord und Totschlag aufgeführt werden. Denn auch wenn viele Menschen denken, dass Abtreibungen innerhalb der Zwölf-Wochen-Frist in Deutschland kein Problem mehr darstellen, sieht das in der Realität anders aus.

Weg mit Paragraf 218, weg mit dem Stigma 

Schwangere, die sich – aus welchen Gründen auch immer – für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, werden 2024 noch immer kriminalisiert. Denn nach Paragraf 218 des deutschen Strafgesetzbuchs sind Schwangerschaftsabbrüche nur straffrei, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. So müssen sich die Betroffenen einer Beratung unterziehen und danach drei Tage Karenzzeit einhalten, um ihre Entscheidung zu überdenken. Nur wenn alle Bedingungen erfüllt sind, dürfen weder die Schwangere noch das medizinische Personal strafrechtlich verfolgt werden. 

Die Kosten für einen Abbruch werden von der Krankenkasse nur nach einer Vergewaltigung übernommen oder wenn die Gesundheit der Schwangeren gefährdet ist. Ungewollt Schwangere haben oft nur wenige Wochen Zeit, um eine Entscheidung zu treffen. Und es ist nicht einfach, Ärzt:innen für den Abbruch zu finden, weil diese auf ihren Webseiten nur eingeschränkt Auskunft darüber geben dürfen. Der Rechtsdruck in Deutschland verstärkt das Problem: Sogenannte “Lebensschützer:innen” verbreiten Hass und Hetze, sodass sich sowohl Betroffene als auch Ärzt:innen eingeschüchtert fühlen. 

Selbstverständlich gibt es auch die Frauen, die “problemlos” und selbstbestimmt abgetrieben haben, und die aus ihrem Umfeld die nötige Unterstützung erfahren haben. Dazu gehören Menschen – insbesondere Ärzt:innen, gute Beratungsstellen und Co. –, die das Recht auf Selbstbestimmung ernstnehmen, die weder bevormunden noch psychischen Druck ausüben. Diese Frauen haben Glück gehabt. Mit Glück sollte eine Abtreibung jedoch nichts zu tun haben. 

3 Frauen teilen ihre Abtreibungsgeschichten 

Nathalie, 34

Aus welchen Gründen hast du dich für einen Abbruch entschieden?

Nach der Geburt meines Sohnes ließ ich mir auf Empfehlung meines Gynäkologen eine Kupferspirale einsetzen. Nur leider war dieses Verhütungsmittel aufgrund einer anatomischen Besonderheit – meiner zweigeteilten Gebärmutter – gar nicht sinnvoll für mich. Davon erfuhr ich allerdings erst, als ich ein halbes Jahr später schwanger war. Die Spirale befand sich auf der einen, der Embryo auf der anderen Seite meiner Gebärmutter. Ich fiel aus allen Wolken, weil ich bis dato nicht mal wusste, dass das möglich ist.

Ich war wütend, dass ich gezwungen war, eine Entscheidung zu treffen, die ich nie treffen wollte.

Mein Frauenarzt war sichtlich peinlich berührt – entblödete sich aber nicht der direkten Frage, ob ich das Kind denn behalten würde. Und ich? Ich geriet in den schlimmsten inneren Konflikt meines Lebens. Ja, ich wollte noch ein Kind. Nein, ich wollte – ich konnte – JETZT kein weiteres Kind bekommen. Frisch in einem neuen (befristeten) Job, mit einem Mann in Ausbildung und einem Eineinhalbjährigen, der noch immer jede Nacht zum Tag machte. Aus diesen Gründen hatte ich mich ja BEWUSST für eine sichere Verhütungsmethode entschieden – oder war zumindest in dem Glauben, das getan zu haben. 

Ich war wütend, dass ich nun gezwungen war, eine Entscheidung zu treffen, die ich nie treffen wollte. Am Ende hat sich der Kopf gegen das Herz durchgesetzt und ich habe mich für den Abbruch entschieden. Und auch, wenn ich noch oft zurückdenke und mir wünsche, ich hätte diese Wahl nie treffen müssen: Ich bin nicht voller Reue, sondern voller Dankbarkeit für die Möglichkeit der Wahlfreiheit.

Welche Berührungspunkte hattest du mit Paragraf 218? Wie stehst du zu Paragraf 218?

Ich erinnere mich sehr gut, wie ich versuchte, eine Beratungsstelle zu erreichen. Das war nervenaufreibend, weil ich zunächst keinen Termin bekam. Und weil ich mich auch nicht “beraten” lassen wollte: Ich habe verhütet, ich bin dennoch schwanger – was soll ich da groß erklären. Die Formulierung “Die Beratung hat sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen” empfinde ich noch heute als schwer erträglich. Weil ich diese Perspektiven in meinem Kopf natürlich hin und her gewälzt habe und es mir natürlich nicht leicht gemacht habe. 

Ich fühlte mich wie eine Verbrecherin, die nach “heißer Ware” fragt.

Der Beratungszwang impliziert für mich eine empörende Unterstellung: Nämlich, dass Frauen eine Abtreibung auf die leichte Schulter nehmen und sich mit der Entscheidung Für und Wider nicht selbst genug auseinandersetzen würden. So, als wäre das mit einem Friseurbesuch vergleichbar. Entsprechende Bemerkungen aus dem “konservativen Lager” in Bezug auf das Werbungsverbot und Abtreibung generell unterstreichen diesen Eindruck: Abtreibung als Lifestyle? Ja, genau.

Mindestens ebenso belastend wie die Beratung war die Suche nach einer Praxis, die Abbrüche durchführt. Ich hing ewig in den Warteschleifen der Frauenärzte und fühlte mich wie eine Verbrecherin, die nach “heißer Ware” fragt. Ich war schockiert, wie wenig Informationen man online findet und wie selten diese Leistung generell angeboten wird. Dabei bin ich in einer Großstadt vermutlich noch sehr verwöhnt, was die Versorgung angeht. Mit Abstand am unangenehmsten war allerdings die Beantragung zur Kostenübernahme des Eingriffs bei meiner Krankenkasse. Ich musste dazu persönlich (!) in einer Niederlassung auftauchen und einem fremden Mann meine finanzielle Situation darlegen. Dass es dafür keine digitale Lösung gab (gibt?), finde ich mehr als beschämend.

Was hätte dir in der Situation geholfen? 

Eine freiwillige Beratung, keine entwürdigende Prozedur bei der Krankenkasse und eine öffentliche Einsehbarkeit von Praxen, die Abbrüche durchführen. Am Wichtigsten: Grundsätzlich muss sich im gesellschaftlichen Diskurs etwas ändern. Frauen lassen Abtreibungen nicht aus Spaß durchführen. Frauen nehmen die Sache ernst. Die Paragrafen 218 und 218a tragen nicht dazu bei, diesen Diskurs in eine positive Richtung anzustoßen. Sie manifestieren das Stigma. Weg damit!

Birgit (Name geändert), 55

Aus welchen Gründen hast du dich für einen Abbruch entschieden?

Neue Stadt, neuer Job und dazu eine Distanzbeziehung – mein Leben war in jeder Hinsicht im Umbruch, und ein Kind hätte mich zu dem Zeitpunkt komplett überfordert.

Welche Berührungspunkte hattest du mit Paragraf 218? Wie stehst du zu Paragraf 218?

Es kann nicht sein, dass Frauen immer noch kriminalisiert werden, wenn sie eine Schwangerschaft abbrechen wollen. Der Paragraf 218 muss weg. Ich habe es damals als Bevormundung empfunden, dass ich mich vor dem Eingriff beraten lassen musste. Als hätte ich nicht ohnehin intensiv über alle Optionen nachgedacht in dieser Situation.

Was hätte dir in der Situation geholfen?

Ich hatte, was ich am dringendsten brauchte: Einen Frauenarzt, der auf meiner Seite war und die Entscheidung nicht infrage gestellt hat. Meine späteren Schwangerschaften und die Geburten meiner beiden Kinder hat er mit der gleichen Freundlichkeit und Fürsorglichkeit begleitet.

Daniela, 39

Aus welchen Gründen hast du dich für einen Abbruch entschieden?

Es wäre schön zu sagen, dass es einen Grund X gab, der ausschlaggebend war. Stattdessen war es ein tage- bzw. wochenlanger Reflexionsprozess. Zuerst waren da meine “Umstände”: Der Mann, mit dem der “Unfall” passierte, und ich kannten uns erst wenige Wochen. Und es war klar, dass wir keine längere Beziehung eingehen würden. Er hat sich sehr schnell distanziert und klar gemacht, dass ich keinerlei Unterstützung von ihm erwarten kann. Ich wäre also von Beginn an alleinerziehend gewesen. Meine Kernfamilie wohnt auch nicht in meiner Nähe, sodass ich insgesamt wenig Support gehabt hätte. Gepaart mit finanziellen Sorgen und einer gerade erst überstandenen Depressionserkrankung war meine Ausgangssituation alles andere als optimal.

Gleichzeitig habe ich abgewogen, wie wahrscheinlich ich als (alleinerziehende) Frau einen Karriereknick erleben würde, wie wahrscheinlich ich in meiner persönlichen Ausgangssituation von Altersarmut betroffen wäre und letztlich habe ich auch für mich reflektiert, welches Gewicht geopolitische Ereignisse oder der Klimawandel auf diese schwere Entscheidung haben sollten. Die Leute sagen immer: “Für Kinder gibt es nie einen richtigen Zeitpunkt.” Dem kann ich zustimmen. Ich finde aber auch, jede Frau hat das Recht, abzuwägen, unter welchen Umständen und in welcher Welt sie bereit ist, sich der immensen Verantwortung einer Kindeserziehung zu stellen.

Der wohl spannendste Punkt dieser Erfahrung für mich war aber, dass ich mir erst zu einem sehr fortgeschrittenen Zeitpunkt die Frage stellte, ob ich eigentlich überhaupt bereit bin, MICH als Person, meine Wünsche, meine Bedürfnisse und meinen bisherigen Lebensstil für die Veränderungen, die ein Kind unweigerlich mit sich bringt, zurückzustellen. Hier zeigen sich in meiner Wahrnehmung die gesellschaftlichen Einflüsse, (unausgesprochenen) Erwartungen und der Blick auf die Rolle der Frau am deutlichsten. Diese letzte Frage für mich zu reflektieren, war die schwerste Prüfung von allen in diesem Prozess. Und hätte ich mir diese Frage nicht eigentlich als Erstes stellen dürfen?

Welche Berührungspunkte hattest du mit Paragraf 218? Wie stehst du zu Paragraf 218?

Der Paragraf 218 ist das Abbild der oben beschriebenen gesellschaftlichen Einflüsse und Erwartungen. Selbstverständlich musste ich mich einer Beratung unterziehen, bevor der Abbruch vorgenommen werden konnte. Ich empfand das als enorm belastend, denn ich habe leider keine neutrale Beratung erlebt. Sie war klar contra Schwangerschaftsabbruch und glich einem Spießrutenlauf sowie einer permanenten Infragestellung meiner eigenen Überlegungen. Aber erst später, als ich diese Erfahrung aufarbeitete, machte mich das wirklich wütend. Die Tatsache, dass ich als erwachsene, gesunde Frau mit dem Zeitpunkt der bescheinigten Schwangerschaft nicht mehr allein über mein Leben entscheiden durfte und dass ich mich “rechtswidrig” verhalten hatte, passt bis heute nicht in mein Weltbild.

Was hätte dir in der Situation geholfen? 

Mir hätte ein kleines bisschen mehr Zeit geholfen. Wenn man sich, wie ich, vorher nie ernsthaft Gedanken über die K-Frage gemacht hat, ist der Zeitdruck, der sich automatisch ergibt, wenig hilfreich in der Entscheidungsfindung. Dabei respektiere ich, dass ungeborenes Leben geschützt werden muss. Deshalb begrüße ich Überlegungen der Gesetzgeber, in denen einbezogen wird, ab welchem Zeitpunkt ein Fötus denn tatsächlich eigenständig lebensfähig wäre.

Ich habe leider keine neutrale Beratung erlebt.

Erschwert wurde die Situation auch dadurch, dass es keine echten Beratungsangebote gab. Zum Zeitpunkt meiner Entscheidung war Paragraf 219a noch in Kraft, somit gab es praktisch gar keine Informationsmöglichkeiten für mich. Hinzu kam, dass die Frauenarztpraxis, in der ich seit über 15 Jahren Patientin war, sich im Verlauf der Jahre auf den Schwerpunkt Kinderwunsch spezialisiert hatte. Bei normalen Routineuntersuchungen spielte das keine Rolle, aber als ich meine Ärztin mit meinen Überlegungen konfrontierte, gab es auch an dieser Stelle keine wertfreie Betrachtung. 

Ganz im Gegenteil: Ich musste mich für meine gewählte Verhütungsform rechtfertigen und erläutern, warum es mir nicht möglich war, die Pille danach zu nehmen. Und mir wurde gesagt, dass ich mir doch sehr genau überlegen solle, ob ich diesen “Sechser im Lotto” wirklich wegwerfen wolle, denn ich sei ja schließlich nicht mehr die Jüngste und würde es sicher bereuen. Fast unnötig zu erwähnen, dass ich dort heute nicht mehr Patientin bin.

Es kostet sehr viel Kraft, durch diesen Prozess zu gehen, die eigene Situation zu reflektieren und zu einer Entscheidung zu gelangen. Ich glaube, dass es kaum Frauen gibt, die diese Entscheidung leichtfertig treffen. Statt gesetzlich vorgeschriebenen Pseudo-Beratungen wären echte, neutrale Beratungsangebote hilfreich, auf die Frauen freiwillig zugreifen können, wenn sie einen Sparringspartner brauchen. Ich habe diese Person glücklicherweise in meiner besten Freundin gefunden, die eine unglaubliche Unterstützung war.

Source: Aktue