Aufmerksamkeitsstörung: Diagnose im Erwachsenenalter: ADHS mit 40

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Die Diagnose Aufmerksamkeitsstörung (ADHS) mit über 40? Das ist keine Seltenheit mehr. Warum sie für viele Frauen eine Erleichterung ist — und was die Hormone damit zu tun haben, weiß die Psychiaterin Alexandra Philipsen.

Heftbox Brigitte Standard

Wie äußert sich das Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts)-Syndrom, kurz ADS bzw. ADHS, bei Erwachsenen im Unterschied zu den Symptomen im Kindesalter?

Prof. Dr. Alexandra Philipsen: Jeder Mensch mit dieser Diagnose ist einzigartig und hat natürlich auch viele positive Fähigkeiten, das ist mir ganz wichtig. Was aber allen Erwachsenen mit AD(H)S gemein ist, ist eine Aufmerksamkeitsregulationsstörung. Gerade bei Alltagsaktivitäten zu Hause oder im Beruf haben die Betroffenen immer wieder Aufmerksamkeitsprobleme oder fallen durch einen eher “chaotischen” Lebensstil auf; viele Projekte werden gleichzeitig begonnen, und die Betroffenen bleiben hinter ihren Möglichkeiten zurück.

Wir reden also nicht über mangelnde Intelligenz, richtig?

AD(H)S betrifft Hochbegabte ebenso wie Menschen mit Lernstörungen und geht quer durch alle Schichten und Elternhäuser, aber Betroffene bleiben hinter dem zurück, was sie leisten könnten, weil es ihnen schwerfällt, strukturiert und fokussiert vorzugehen. Im Kindesalter spielt eher die motorische Unruhe eine große Rolle, vor allem bei Jungs – daher das H für Hyperaktivität im Kürzel. 

Im Erwachsenenalter tritt das mehr in den Hintergrund. Innere Unruhe, erhöhter Bewegungsdrang und Konzentrationsschwankungen bleiben aber bestehen. Dazu kommen Schwierigkeiten, Gefühle angemessen zum Ausdruck zu bringen. Bei positiven wie Begeisterungsfähigkeit kann das charmant und schön sein, aber bei eher negativen fühlen sich Betroffene oft überwältigt von ihren Gefühlen.

Gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen?

Frauen sind eher seltener motorisch unruhig als Männer, sie kämpfen eher mit der Emotionsregulation bzw. mit der Gefühlsstärke; da spielen auch hormonelle Zyklen oder eine hormonelle Umstellung wie die Wechseljahre eine Rolle.

Inwiefern das?

Wir wissen heute, dass prämenstruelle Beschwerden, also niedrige Gestimmtheit, Antriebsminderungen, Reizbarkeit, Konzentrationsprobleme vor dem Beginn der Menstruation häufiger und stärker auftreten, wenn Frauen auch von AD(H)S betroffen sind. Außerdem haben Mütter damit nach der Geburt ein deutlich höheres Risiko für nachgeburtliche Depressionen. Und wir wissen, dass Betroffene häufiger über Wechseljahresbeschwerden klagen, und zwar nicht nur psychisch mit Schlafstörungen, Depressivität, Konzentrationsproblemen, sondern auch über stärkere körperliche Symptome wie Hitzewallungen.

Was bedeutet das für das individuelle Stressempfinden?

Wenn alles tendenziell stärker gefühlt wird, erhöht das die Stressanfälligkeit. Untersuchungen legen außerdem nahe, dass Betroffene offenbar mehr Zeit brauchen, um äußere Reize zu verarbeiten – auch das erhöht natürlich das Stresslevel. Außerdem fällt es ihnen oft schwer, sich auf Gespräche zu konzentrieren, weil das Tagträumen, die sogenannten Traum-Netzwerke, parallel weiterläuft.

Das klingt aber auch, als könnte es eine Stärke sein?

Ja, die Betroffenen können dadurch oft sehr kreativ und assoziativ denken; diese positiven Aspekte gehören auch dazu. Es gibt sehr viele erfolgreiche, innovative Menschen mit AD(H)S, aber eben auch viele, die die Symptomatik im Alltag als einschränkend erleben. Sie fühlen sich überfordert mit der Alltagsstrukturierung, haben zum Beispiel ihre Finanzen nicht im Griff. Oft gelten sie als unzuverlässig, weil sie Absprachen vergessen, Dinge verlieren und zu spät kommen. Manche kompensieren aber auch, zum Beispiel durch Überorganisiertheit bzw. Perfektionismus, und empfinden die “Maskierung”, die sie betreiben, um nicht aufzufallen, als aufreibend.

Was antworten Sie auf den Vorwurf, das Ganze sei eine Art Modediagnose? Gefühlt melden sich ja gerade sehr viele Betroffene, auch Prominente, in den Medien zu Wort.

Auch die Zahl der gemeldeten Diagnosen bei den Krankenkassen nimmt in der Tat zu, trotzdem ist das noch lange kein Massenphänomen. Und wenn ich den Kummer sehe, den Erwachsene hinter sich bringen mussten, bevor sie bei uns diagnostiziert wurden, dann bin ich froh, dass das Thema mehr Aufmerksamkeit bekommt. Eine Diagnose kann so viel Erleichterung bringen, auch weil sie eine Entscheidungshilfe ist für Fragen der Lebensplanung und -gestaltung. Ich warne allerdings vor vorschnellen Selbstdiagnosen. Das sollte ausgebildeten Psychiatern vorbehalten sein.

Ab wann halten Sie es für sinnvoll, sich testen zu lassen?

Nur dann, wenn die Symptomatik wirklich zu Beeinträchtigungen im Alltag und in Beziehungen führt. Klar, Einzelnes passiert jedem mal. Wenn es aber immer oder häufig passiert, beeinträchtigt es das Selbstwertgefühl massiv, weil viele anfangen, an sich selbst zu zweifeln. Die Kombination belastet berufliche und private Beziehungen und Familien.

Apropos Familie: Wie stark ist das Problem genetisch bedingt?

Wir wissen, dass die Ursachen zu mindestens drei Vierteln genetisch sind. Es gibt kein einzelnes Gen, sondern eine Konstellation von verschiedenen Genen, die dann in bestimmte Stoffwechselveränderungen münden. Dass ein Kind AD(H)S hat und niemand anderes in der Familie, ist eher unwahrscheinlich – auch deshalb kommen viele Eltern dann bei uns zur Diagnostik. 

Es gibt aber auch andere Faktoren: Frühgeburtlichkeit oder Geburtskomplikationen zum Beispiel. Eine Umgebung voller Ablenkungen oder ein unsicheres, nicht wohlwollendes Umfeld machen es den Betroffenen nicht eben leichter, gut klarzukommen – ein stabiles Umfeld hilft. Trotzdem: Die Kernproblematik, nämlich die Aufmerksamkeitsregulationsstörung, ist und bleibt hochgenetisch. Daraus können sich dann viele andere psychische Probleme entwickeln.

Kann es dann manchmal auch zu Fehldiagnosen kommen?

Häufig wird bei psychischen Erkrankungen die darunter liegende AD(H)S nicht erkannt, Therapien helfen dann nicht nachhaltig. Manchmal sind entstandene Sucht- oder Angsterkrankungen eher eine Folge. Nahezu alle psychischen Erkrankungen treten bei den Betroffenen gehäuft auf, Depressionen zum Beispiel. Und viele Betroffene greifen, vermutlich in einer Art Selbstmedikation, eher zu Alkohol, Nikotin oder Cannabis. Auch maßloses Kaufverhalten kann ein Thema sein. Wie gesagt, viele kommen gut klar mit der Veranlagung, aber nicht alle; für die ist eine Diagnose sinnvoll.

Wie läuft die Stellung der Diagnose dann genau ab?

Es ist und bleibt eine klinische Diagnose, bei der zunächst anderes ausgeschlossen wird, eine Schilddrüsenfehlfunktion oder andere psychische Grunderkrankungen zum Beispiel. Das bedeutet, man nimmt sich Zeit und erfragt sowohl Symptomatik und Beschwerden jetzt als auch, und das ist wichtig, in der Vergangenheit. Es gibt kein AD(H)S, das mit 40 plötzlich beginnt. Es kann sich zum Beispiel in Krisen oder durch hormonelle Verschiebungen stärker zeigen, aber es gibt immer schon vorher Hinweise, in Schulzeugnissen etwa. Manchmal erfragen wir zusätzlich die Einschätzung eines nahen Angehörigen. Die Gesamtschau inklusive standardisierter Fragebögen macht es dann am Ende aus.

Und was hilft, wenn man die Störung tatsächlich hat?

Zunächst fundierte Aufklärung sowie Tipps und Strategien zur Impuls- bzw. Emotionskontrolle, zu Stressmanagement oder einer konzentrationsfördernden Umgebung, also so eine Art Werkzeugkoffer. Auch verhaltenstherapeutische Gruppen- und Einzeltherapie kann hilfreich sein. All das reicht aber nicht aus bei starker Kernsymptomatik, der Aufmerksamkeitsregulation. Da helfen oft nur Medikamente. 

Für die Aufmerksamkeitsregulationsstörung wird der Wirkstoff Methylphenidathydrochlorid eingesetzt, vielen hilft das auch bei der Emotionsregulation. Oder auch Amphetamine, man muss das aber individuell abstimmen. Ich befasse mich seit 2002 mit ADS und ADHS, und diese Vorurteile gegenüber der medikamentösen Behandlung sind irgendwie geblieben – ich empfehle das Medikament trotzdem ausdrücklich, wo nötig.

Was beobachten Sie dann bei den Betroffenen nach Diagnose und Behandlung?

Vor allem eine große psychische Entlastung, weil es eine Erklärung für die bisherigen Schwierigkeiten gibt – und dann auch eine enorme Erleichterung des Alltags, im Hinblick auf Fokussierung, aber auch im Hinblick auf zwischenmenschliche Beziehungen.

Prof. Dr. Alexandra Philipsen: Die Fachärztin ist Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Bonn. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist AD(H)S bei Erwachsenen.

Mehr Infos: adhs-deutschland.de;zentrales-adhs-netz.de

Source: Aktue