Autorin Heide Fuhljahn: Depressionen sind kein Lifestyle!

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Psychisch nicht ganz fit zu sein: Darüber wird mehr denn je gesprochen, gebloggt, geposted. Gut so, möchte man meinen. Heide Fuhljahn aber treibt es oft zur Weißglut.

 

“Tanja ist depressiv!”, verkündet meine Freundin mit Nachdruck. Ihre Partnerin sei schließlich bedrückt, grantig, erschöpft, würde ständig am Handy hängen, Sex hätten sie kaum noch. “Das kann doch alles Mögliche sein”, wende ich ein, aber sie guckt nur trotzig. Sie kenne Tanja schließlich am besten.

Psychologisieren ist Trend. Trauma, Borderline, triggern, Depression, Autismus, ADHS: Das sind nicht mehr Fachbegriffe unter Expert:innen, sondern Alltagssprache. Alle reden mit, alle halten sich für kompetent. Ich finde das respektlos. Denn leider – und ich möchte das in Großbuchstaben schreiben: LEIDER! – kenne ich mich weit besser mit Depressionen aus, als mir lieb ist. Ich litt jahrzehntelang daran, verbrachte Jahre in Kliniken. Zudem halte ich Vorträge, da ich zwei Sachbücher zum Thema geschrieben habe. Das wichtigste Ergebnis meiner Recherchen: Ich kenne meine Grenzen! Wissen und Erfahrungen vermitteln: Das kann ich. Aber ich bin keine Expertin: Weder kann ich Krankheiten feststellen, noch behandeln.

Deshalb treiben mich auch Beiträge in den sozialen Medien zur Weißglut. Denn natürlich ist im Netz das Mitreden besonders penetrant. Und das Inszenieren: Auf TikTok etwa gibt es den sogenannten Sad-Girl-Trend, bei dem junge Frauen mit perfekt verheultem Make-up Trauer und Verzweiflung in ästhetischen Bildern präsentieren, als sei es romantisch, depressiv zu sein. Oder ein Beispiel auf Instagram: Eine Lifestyle-Bloggerin, schreibt, dass sie mal eine Panikattacke hatte. Das war schlimm! Aber hey, wie gut! Sonst könnte sie jetzt ihre Me-Time mit Zimtschnecke nicht so #hyggelig auf der Couch genießen, zwinkerzwinker, während die Kinder in blau-weiß geringelten Pullis (#werbungfürpetitbateauoderso) bei der Nachbarin spielen. Es wirkt, als ob sie die Panikattacke nutzt, um ihren Post mit Seriosität zu ummanteln.

Depressionen dienen nicht zur Selbstdarstellung

“Generell ist heute ein Hang zur performativen Selbstentfesselung erkennbar: Zeigen wir der Welt, wer wir sind!”, sagt Dr. Martin Altmeyer, Psychologe, Therapeut und Autor von “Das entfesselte Selbst: Versuch einer Gegenwartsdiagnose” (Psychosozial Verlag). “Dabei ehrlich und echt zu erscheinen, authentisch eben, verspricht beste Resonanz. In einer Ökonomie der Aufmerksamkeit, von der manche neben narzisstischem auch finanziellen Gewinn erhoffen, macht das Bekenntnis zur eigenen Schwäche oder zu einer seelischen Krise – ob wahr oder erfunden – jedenfalls umso interessanter.”

Auf die Spitze getrieben hat das für mich Cathy Hummels. Die Ex-Spielerfrau und Unternehmerin postete letzten Winter Fotos von einem Yoga-Retreat auf Rhodos mit dem Hinweis auf ihre überstandene Depression. So ein Rückzug aus dem Alltag, mit Sonne und Meer, sei super für die seelische Gesundheit. Als Beleg präsentierte sie sich mit anderen Influencerinnen beim Yoga, Malen, Schminken und mit gesunden Lebensmitteln. Die Logos der zahlenden (Kosmetik-)Firmen waren gut zu sehen. Cathy Hummels erntete einen Shitstorm. “Depression ist kein Marketinginstrument” schrieb die Deutsche Depressionsliga, eine Organisation von Betroffenen und Angehörigen, in einer Pressemitteilung. “Das Thema ist zu leidvoll, um damit zu spielen.” Hummels entschuldigte sich nachdrücklich. Sie habe nichts verharmlosen, niemanden verletzen wollen, sondern zeigen, dass es auch Prominente treffen könne.

Wie wäre es mir gegangen, hätte ich damals Posts wie die von Cathy Hummels gesehen? 2006 war mein Sommer der Superlative: Ich schrieb für eine Segelzeitschrift, Valencia, Elba, Cornwall, Toulon, Bergen, so viele Reisen wie nie, so gutes Wetter wie nie – und doch war ich so verzweifelt und lebensmüde wie nie. Dass ich depressiv war, wusste ich, aber nachdem sich mein Freund getrennt hatte, brach ich auseinander. Ich rief weinend vom Strand aus meinen Therapeuten an, saß weinend im Flugzeug, nahm Antidepressiva und Beruhigungsmittel.

Social Media kann helfen – im richtigen Rahmen

Hätte Social Media mir helfen können? Die Botschaft, dass auch Menschen, deren Leben wunderschön wirkt, schwer krank sein können? Vielleicht. Tipps, doch mal Urlaub zu machen, mich zu schminken und am richtigen Mindset zu arbeiten? Sicher nicht. Natürlich sind Sonne und Selbstfürsorge sinnvoll, Yoga und gesunde Ernährung auch – vor allem aber zur Prävention. Ich tat schon alles, was Ratgeber schrieben (Tagesstruktur halten, positive Erlebnisse stärken, Freunde treffen) und plante trotzdem jeden Tag meinen Suizid.

Die sozialen Medien gab es 2006 noch nicht, auch analog wurde über psychische Erkrankungen weniger öffentlich geredet als heute. Dass auch Marilyn Monroe und Winston Churchill an Depressionen gelitten hatten, erfuhr ich – und fühlte mich weniger allein. Trotzdem fürchtete ich, als “reif für die Klapse”, “nicht normal” oder “Low Performer” aussortiert zu werden. Als sich 2009 Nationaltorwart Robert Enke das Leben nahm, war das ein Wendepunkt, weil sichtbar wurde, dass es alle treffen kann, dass Stereotype über “starke” und “schwache” Menschen nicht der Wirklichkeit entsprechen.

Heide Fuhljahn
“Kalt erwischt” (Diana) und “Von Wahn und Sinn” (Springer) heißen Heide Fuhljahns Bücher. Gerade arbeitet sie an ihrem dritten, das im März erscheint.

Aber erst die sozialen Netzwerke sorgten weltweit für einen Schulterschluss. Ich bin erleichtert, dass das Stigma kleiner wird, es alltäglicher wird, über mentale Gesundheit zu sprechen – im Freundeskreis, im Job, im Netz. Auch wenn es eine Gratwanderung bleibt, denn je mehr Menschen mitreden, desto größer ist die Gefahr, dass das Gesagte ungenau wird – und den Betroffenen nicht gerecht.

Depressionen können gravierende Folgen haben

“Tatsächlich hat die Resonanz der Medien in den vergangenen 25 bis 30 Jahren zur Enttabuisierung beigetragen. Viele wagen es jetzt, ihr Leid vor der Familie und vor Freunden auszusprechen”, sagt Prof. Dr. Heinz Böker. Der Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatik, Kinder- und Jugendpsychiatrie und ehemalige Chefarzt an der Uniklinik Zürich ist eine Koryphäe, wenn es um Depressionen geht. “Doch wenn das Thema auf dem Niveau von Werbeclips vermarktet wird, ist das eine Bagatellisierung. Die Depression ist eine schwere Erkrankung. Sie greift sehr tief in das Dasein, auch in den Körper der Patienten ein und betrifft alle wesentlichen Bereiche des Lebens. Und sie bleibt eine große Herausforderung für die Gesellschaft, das hat nichts mit Wellness zu tun. Wenn Patienten Tipps bekommen, wie ‚Verreisen Sie mal‘, sind das naive Aussagen. Das Problem von vielen Posts ist, dass sie eine gewisse Wahrheit enthalten, aber die Verharmlosung ist unerträglich.

Die Fakten zur Volkskrankheit sind schließlich eindeutig: weniger Lebensqualität, Geld, Arbeit. Bei schweren Depressionen sogar eine deutlich verkürzte Lebenserwartung. “Einer von vier Patienten erhält keine leitliniengerechte Behandlung, bei schweren Depressionen sind es sogar drei von vier”, sagt Dr. Iris Hauth, Ärztliche Direktorin des St. Joseph Krankenhauses in Berlin. “Jeder dritte Patient mit chronischer Depression wird nicht behandelt. Und im Anschluss an eine stationäre Behandlung erhalten nur acht von 100 Patienten eine leitliniengerechte Therapie.”

Ich bin Prominenten, die Aufmerksamkeit und Geld generieren, durchaus dankbar. Auch Cathy Hummels, die 2021 ein Charity-Dinner für die “Stiftung Deutsche Depressionshilfe” veranstaltete und 90 000 Euro einsammelte. Aber ich wünsche mir etwas anderes. Eine bessere, sicher finanzierte Versorgung, sodass niemand 60 Therapeut:innen anrufen muss, um dann anderthalb Jahre auf eine Behandlung zu warten. Und dass Prominente (und alle anderen), die wenig Ahnung haben, nicht so tun als ob. Es reicht völlig, wenn sie mitteilen, dass seelische Krankheiten ernst zu nehmen sind. Keine Werbebotschaft und kein Lifestyle!

Heftbox Brigitte Standard

Source: Aktue