Boxweltmeisterin im Leichtgewicht: Dilar Kisikyol kämpft für eine bessere Welt

Aktuel

Dilar Kisikyol, 31, Boxweltmeisterin im Leichtgewicht, trainiert Frauen mit Parkinson – und kämpft auch an anderen Fronten für benachteiligte Menschen.

Samstag sollte ihr großer Tag sein: Dilar Kisikyol wollte in München ihren Weltmeistertitel im Boxen verteidigen. Doch ein winziges Virus war stärker als sie. Dilar lag mit Corona flach und ist zwar inzwischen genesen, aber noch nicht fit genug, um den langen Kampf gegen die Argentinierin Marisa Gabriela Nunez durchzustehen. Der Fight muss verschoben werden. Dilar hofft nun, dass es im Dezember klappt. 

“Der Boxsport zeigt mir, wozu ich fähig bin. Im Ring bin ich komplett auf mich allein gestellt, und das hilft mir, mit Rückschlägen klarzukommen“, sagt die Profiboxerin und wirkt dabei alles andere als verbissen. Obwohl der geplatzte Kampf ein harter Schlag für die Weltmeisterin im Leichtgewicht bis 61,2 Kilo sein muss, versprüht sie gute Laune, als wir uns in der Halle des Hamburger Boxverbands treffen. Ich möchte sie und ihre Parkinson-Gruppe kennenlernen. Dilar (“im Sport duzt man sich”) trainiert jeden Mittwoch zehn erkrankte Frauen zwischen 43 und 80 Jahren – ehrenamtlich.  

Dilars Anliegen: Das Boxen mit Sozialarbeit verbinden

Während die Frauen nach und nach eintrudeln und herzlich begrüßt werden, erzählt Dilar, dass sie schon früh das Kämpfen gelernt hat. Sehr früh. Sie kam in Leverkusen als Drillingskind auf die Welt, als kleinstes der drei Geschwister: “Ich wurde mit 1.500 Gramm geboren und habe mich schon in den ersten Sekunden durchgeboxt”, erzählt sie. Aber auch danach habe sie gelernt, sich zu behaupten und ihren Weg zu gehen. Diese Fähigkeit möchte die studierte Sozialpädagogin weitergeben: 

“Weil ich mich in einer Männerdomäne behaupte, möchte ich Mädchen und Frauen ein Vorbild sein, damit sie sich nicht unterkriegen lassen.“ 

Female Empowerment ist ihr wichtig, genau wie Inklusion und Integration, das sind die drei Grundpfeiler ihres Herzensprojekts “Du kämpfst“, das sie auf die Beine gestellt hat, um soziale Arbeit mit dem Boxsport zu verbinden. 

Mich integriert Dilar schneller in ihre Parkinson-Gruppe, als ich “k.o.” sagen kann: “Hast du schon mal geboxt?“, fragt sie mich. Als ich verneine, sagt sie “Okay, dann trainierst du heute mit.” Sie besorgt mir eine Flasche stilles Wasser und Boxhandschuhe – “die stinken am wenigsten, hab ich erst zweimal getragen” –, und ich fühle mich, als wäre ich schon immer dabei gewesen beim Schattenboxen gegen das Zittern: Aufwärtshaken, Seitwärtshaken, eins, zwei, eins, zwei, wir stehen uns paarweise gegenüber, mal boxe ich gegen Utes Handschuhfäuste, mal Heike gegen meine, mal werfen wir uns einen Ball zu. Zwischendurch klingelt ein Medikamentenwecker – dass eine der Frauen eine Pille einwerfen muss, nehmen andere zum Anlass, in der Ecke des Rings eine Runde zu “schnacken”, wie man in Hamburg sagt. Dilar scherzt: “Sie gehen nach dem Training immer zusammen ins Café, aber heute halten sie hier ihr Kaffeekränzchen!” Alle lachen.

“Es war wie Liebe auf den ersten Blick”

“Wir haben immer sehr viel Spaß”, sagt Ute, vor allem aber schätze sie die Verbindlichkeit und das fürsorgliche Miteinander. Die 72-Jährige hat die Gruppe 2021 mit zwei anderen Frauen initiiert. Nachdem sie im belgischen Fernsehen eine Doku über die Vorzüge des Boxens für Parkinson-Patient:innen gesehen hatte, fragte sie beim Hamburger Boxverband an, der Dilar gerade zur Frauen- und Inklusionsbeauftragten gemacht hatte. Ein Perfect Match: Schon beim ersten Treffen sei es “wie Liebe auf den ersten Blick” gewesen. “Dilar ist für uns ein Schatz! Sie hat fast immer gute Laune, ist sehr erfrischend und sehr fürsorglich im Umgang mit uns.” Fast sei es, als habe sie noch eine späte Tochter bekommen, freut sich Ute, oder besser gesagt, eine Enkelin: “Als Dilar eine Wohnung gesucht hat, bin ich mitgegangen und habe gesagt, ich bin die Omi.”

Aber nicht nur für die Seele, vor allem für den parkinsongeplagten Körper ist das Box-Training perfekt. Bewegungsstörungen, Versteifungen, Zittern und eine instabile Körperhaltung können Symptome der Krankheit sein. Daher kommt den Frauen das flexible Ganzkörpertraining zugute: “Der Boxsport ist universell, er fordert Arme und Beine”, sagt Dilar. Die Kombination aus Koordination, Konzentration, Ausdauer und Kraft helfe ihnen, sich besser zu fühlen. “Das Schöne ist, dass das jeder ausüben kann, sogar im Sitzen.” Alle hätten sich in den vergangenen zwei Jahren gut entwickelt. 

Fertigmachen zum Training in der Parkinson-Gruppe: Karin Schmitt freut sich drauf
Fertigmachen zum Training in der Parkinson-Gruppe: Karin Schmitt freut sich drauf
© Jonas Walzberg

Der Sinn ihres Lebens

Ein Glück für die Frauen, dass Dilars Eltern sich damals nicht durchsetzen konnten. Die hatten ihre Tochter zum Klavierunterricht geschickt, aber das lag ihr nicht. “Nach Monaten konnte ich immer noch keine Noten, das war einfach nicht meins”. Gegen den Willen der Mutter (“das ist nichts für Mädels”) hat sie dann als 16-Jährige mit dem Boxen angefangen, als einziges Mädchen weit und breit. Darin hat sie sowas wie den Sinn ihres Lebens gefunden: Der Sport hilft ihr, die beste Version ihrer selbst zu sein, sagt Dilar, Boxen ist ihre Leidenschaft, es erfüllt sie. Und weil der Sport ihr so viel gegeben hat, möchte sie das durch ihr soziales Engagement zurückgeben. Das Wort Leidenschaft fällt immer wieder bei ihrem Plädoyer fürs Boxen, da passt ihr Name gut: “Dilar” kommt aus dem Kurdischen und bedeutet “Feuerherz”.

Neben ihrer Karriere als Profiboxerin, der Parkinson-Gruppe, der Sponsorensuche und der Pressearbeit bietet Dilar mit ihrem Projekt “Du kämpfst” Workshops für Mädchen und Frauen an und ist im Bereich Integration und Inklusion aktiv. “Gerade Frauen erlebe ich häufig als unsicher, das finde ich so schade.” Umso mehr freut sie sich, wenn sie hört, dass das Training die Teilnehmerinnen selbstbewusster gemacht hat. Dilar bekommt auch Anfragen von Unternehmen und Hochschulen, etwa für Workshops mit geflüchteten Frauen. “Nationalitäten spielen im Sport keine Rolle, man kann durch den Sport lernen, zueinander zu finden“, davon ist Dilar überzeugt – auch dass das bei dem aktuellen Zustand der Welt dringend notwendig ist. 

Trotz ihres vielseitigen Engagements hat Dilar sich im November 2022 den Weltmeistertitel der “Woman’s International Boxing Federation” (WIBF) im Leichtgewicht erkämpft. Wie die zehn an Parkinson erkrankten Frauen werde ich ihr bei der anstehenden Titelverteidigung die Daumen drücken. Doch egal, wie der Kampf ausgeht: Hier in der Hamburger Boxhalle ist sie jeden Mittwoch sowieso schon Weltmeisterin der Herzen.

Weitere Infos zur Arbeit von Dilar Kisikyol findet ihr unter dilarkisikyol.de, folgen könnt ihr ihr unter @dilarkisikyol 

 

Source: Aktue