Contenance wahren: Was Menschen anders machen, die selten die Kontrolle über sich verlieren

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Sich selbst im Griff zu haben, kann einem Menschen einige Reuemomente und Wiedergutmachungsbemühungen ersparen. Wieso haben einige Personen mehr Selbstkontrolle als andere? Wissenschaftler:innen aus Beijing haben die Frage untersucht – und möglicherweise eine Antwort gefunden.

Ständig die Kontrolle über sich zu haben, ist für uns als menschliche Wesen weder möglich noch nötig. Nach einer schlaflosen Nacht kann uns ein ausverkaufter Joghurt zum Weinen bringen. Wenn uns eine Person, die wir lieben, auf drei Nachfragen immer noch nicht mitgeteilt hat, dass sie gut angekommen ist, werden uns Angst und Panik uns kaum auf unsere Arbeit konzentrieren lassen. Und gelegentlich ausgelassen zu feiern oder uns ganz dem Genuss hinzugeben, kann unsere Energiereserven auffüllen und unsere Lebensqualität erhöhen. 

Verfügen wir allerdings über zu wenig Selbstkontrolle – geben wir zum Beispiel fast jeder Versuchung nach, lassen uns leicht überreden und beeinflussen, reagieren auf Kleinigkeiten übertrieben emotional –, steht uns das dabei im Weg, unser Leben entsprechend unseren langfristigen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten. Es kann unserer Gesundheit schaden, uns Chancen und Freiheiten kosten, unsere Beziehungen belasten. Ein gewisses Maß an Selbstkontrolle ist in unserem Interesse und fördert auf Dauer Zufriedenheit. Aber wie erlangen, wahren oder verbessern wir Selbstkontrolle? Wissenschaftler:innen der Peking University in Beijing haben dazu in einem Artikel für das “Personality and Social Psychology Bulletin” basierend auf mehreren Untersuchungen eine interessante These vorgestellt: Ein klares Selbst-Konzept, so ihr Eindruck, fördere eine gesunde Selbstkontrolle oder stehe zumindest damit in einem Zusammenhang.

Zu wissen, wer wir sind, könnte mit besserer Selbstkontrolle einhergehen

Mit dem Begriff Selbst-Konzept oder “self-concept clarity” bezeichnen die Forschenden “den Grad, in dem die Vorstellungen vom eigenen Selbst sicher und klar erfasst, in sich stimmig und stabil” sind. Wer über ein klares Selbst-Konzept oder eine hohe “self-concept clarity” verfügt, kann sich selbst gut einschätzen, kennt die eigenen Stärken, Schwachpunkte und Besonderheiten, ist sich persönlicher Werte und Prioritäten bewusst. Wer ohne klares Selbst-Konzept lebt, hat, vereinfacht gesagt, keine Ahnung, was für ein Mensch er ist. 

Die Wissenschaftler:innen haben fünf Befragungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten durchgeführt und dabei verzeichnet, dass Personen mit einer niedrigen “self-concept clarity” vermehrt …

  • … das Gefühl hätten, über wenig Selbstkontrolle zu verfügen,
  • … Anstrengungen scheuten, sich selbst weiter zu entwickeln und neue Fähigkeiten zu lernen,
  • … Schwierigkeiten hätten, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren oder etwas abzuschließen.

Diese Ergebnisse legen einen Zusammenhang zwischen Disziplin oder Selbstkontrolle und dem eigenen Selbst-Konzept nahe, der nach Meinung der Forschenden ein kausaler sein könnte.

Fazit

Spannend und anregend an diesem Ansatz der Wissenschaftler:innen aus Beijing ist, dass sie Selbstkontrolle nicht bloß als isolierte Eigenschaft oder Fähigkeit betrachten, die wir gezielt trainieren oder verbessern könnten, indem wir einen Monat im Jahr auf Alkohol verzichten und uns dafür mit einem Spa-Wochenende belohnen, sondern als Element eines komplexen Ganzen, dessen Rolle es darin gilt zu verstehen: als Teil unserer Persönlichkeit und Identität – und unserem Begriff beziehungsweise Bewusstsein davon. 

Wenn ein Mensch über eine hohe “self-concept clarity” verfügt, wird dieser Mensch wahrscheinlich grundsätzlich die Bereitschaft und Fähigkeit besitzen, sich selbst zu beobachten und zu reflektieren, sich mit anderen zu vergleichen und dabei seine Eigenheit und Besonderheit erkennen – und von dieser Fähigkeit Gebrauch machen. Und wer sich mit Fragen beschäftigt wie “wer bin ich?”, “was zeichnet mich aus?” wird darüber schnell zu den Fragen “wer möchte ich sein?”, “wo möchte ich hin?” und “was ist mir wichtig?” gelangen und im Zuge dessen von sich selbst aus Gründe sehen, Selbstkontrolle zu entwickeln. So zum Beispiel ließe sich ein Zusammenhang erklären und erschiene plausibel.

Lassen wir das Thema Selbstkontrolle einmal außer Acht, könnten wir wiederum andere Vorteile anführen, die ein klares Selbst-Konzept mit sich bringen: So ermöglicht uns eine realistische Einschätzung unserer Grenzen etwa, uns vor chronischem Stress und Überforderung zu schützen. Wir können besser entscheiden, welche Menschen unser Leben bereichern und welche uns mehr Kraft kosten, als wir aufzuwenden in der Lage sind. Wir können unseren Weg an unseren persönlichen Vorlieben und Fähigkeiten orientieren statt an gesellschaftlichen Standards und Erwartungen. Es lohnt sich in mehrerer Hinsicht, unsere Identität zu erkunden und für uns zu klären – auch wenn wir hinterher womöglich trotzdem noch einen Monat im Jahr auf Alkohol verzichten und uns dafür mit einem Spa-Wochenende belohnen müssen.

Verwendete Quelle: psychologytoday.com

Source: Aktue