Der Reiz schlechter Lokale: Normale Teller und Gläser? Schon lange nicht mehr hip genug

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Lokale mit schlechtem Service, langen Wartezeiten oder Drinks in Einmachgläsern sind immer voll. Wieso lassen sich die Menschen dort freiwillig demütigen? 

Neulich habe ich eine Freundin in München besucht, sie nahm mich mit in ein berühmtes Lokal, von dem sie sagte, dass man dort mal gewesen sein müsse, wenn man die “volle München-Dröhnung” will. Ich will immer die volle Dröhnung von eigentlich allem, also sagte ich Ja. Es dauerte eine Weile, bis man uns am Eingang bemerkte und einen Platz zuwies; auf unsere Antwort, was wir trinken wollten (Prosecco), sagte der Kellner: “Mia ham nur Champagner.” Also einigten wir uns auf Weißwein und bekamen dann nach einer Weile lauwarmen Riesling. Von dem hätten wir auch noch mehr getrunken, aber es kam nicht dazu, weil man uns für den Rest des Abends ignorierte; immerhin haben wir einen Blick auf den weltberühmten Inhaber erhaschen können, der mit anderen Gästen Selfies machte. Ein rundum kultiger Abend also. 

Je unangenehmer, desto angesagter

Das erinnert mich an eine Pizzeria, die vor einigen Jahren in Berlin als absoluter In-Spot galt. Die Pizza war nicht schlecht, aber das eigentlich Interessante waren die überaus schlecht gelaunten Kellner. Die waren so absurd unfreundlich und laut, dass man sich beim Bestellen vorkam wie in einer Gefängniskantine, und wer es wagte, zu seiner Pizza noch einen Salat zu bestellen, bekam eine ganze Tomate, eine halbe Gurke, vier Blätter Salat und Essig und Öl hingeknallt und musste selber schnippeln. Kultig! 

Natürlich ist bei beiden Beispielen klar, worin der Reiz liegt: Irgendwann durch häufiges Erscheinen oder Wichtigkeit in den Kreis jener Gäste aufzusteigen, die eben nicht angeraunzt oder ignoriert, sondern vom Chef mit Namen und Handkuss begrüßt werden. Trotzdem fasziniert mich die Popularität von Orten, die eigentlich der entspannten Nahrungsaufnahme dienen sollten, es aber ihrer Kundschaft besonders schwer machen. Entweder durch ausgeprägte Unfreundlichkeit oder auch durch das Servieren von Essen und Getränken in dafür ungeeigneten Behältnissen. 

Normale Teller? Schon lange nicht mehr hip genug

Vielleicht bin ich naiv, vielleicht gehe ich zu sehr von meinen eigenen Bedürfnissen aus, aber ich bin mir eigentlich ziemlich sicher: Niemand möchte Cocktails aus Einmachgläsern trinken, niemand möchte von randlosen Schiefertafeln oder Baumscheiben essen, niemand seine Beilagen aus Spielzeugeinkaufskörbchen klauben oder vorher die Essens- und Getränkeauswahl auf dem Handybildschirm durchscrollen, weil es statt einer Speisekarte nur noch einen QR-Code gibt. Und trotzdem ist gerade in den hippen, angesagten Lokalen all das Standard, so sehr, dass sich eine Initiative namens “We want plates” in den sozialen Medien seit Jahren für eine gastronomische Rückkehr zu stinknormalen Tellern stark macht. 

Ein weiteres gastronomisches Phänomen, das mich beschäftigt, ist das Schlangestehen. Seit vielen Jahren steht in Berlin Kreuzberg von früh bis spät eine mindestens 100 Meter lange Schlange vor einem kleinen Imbisswagen, um “Mustafas Gemüse-Kebap” zu essen. Der ist sicher sehr gut, aber in Berlin bekommt man wirklich an jeder Ecke vorzüglichen Döner in allen Variationen. Längst ist diese Schlange das eigentliche Ereignis, so wie die Schlange vorm “Berghain”. Die Leute stellen sich dort an, weil sich alle anderen auch anstellen, und ich fühle seit einiger Zeit, wie diese Schlange eine immer größere Anziehungskraft auf mich ausübt. Ich bin längst in ihrem Bann, ich kann mich dem Kult der Schlange nicht mehr lang entziehen. Vielleicht muss ich doch einmal dabei gewesen sein, vielleicht ist das die Berlin-Erfahrung, die mir nach einem Vierteljahrhundert in dieser Stadt noch fehlt. Unfreundliche Kellnerinnen und Kellner und unpraktisches Geschirr hatte ich über die Jahre schon zuhauf, kenn ich, kann ich. Aber eine Stunde Anstehen für eine gefüllte Weißbrottasche, das fehlt mir tatsächlich noch. 

Wenn meine Münchner Freundin bald zu Besuch kommt, werde ich sie fragen, ob sie “die volle Berlin-Dröhnung” will, und wenn sie Ja sagt, dann weiß ich, wohin ich sie ausführe. 

Alena Schröder ist Autorin des Bestsellerromans “Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid” und schreibt für BRIGITTE eine Kolumne im Wechsel mit Anja Rützel. 

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Source: Aktue