Sie dokumentieren russische Kriegsverbrechen. Hebeln Russlands Staatsvermögen aus. Erklären der Welt, wie Präsident Wladimir Putin tickt. Organisieren vom Exil aus die Opposition. Acht besondere Frauen im Porträt
Die Entschlossene
Kaja Kallas, EU-Außenbeauftragte
© Andrew Harnik
Wenn Kaja Kallas erzählt, was sie zu der Person gemacht hat, die Wladimir Putin vor einem Jahr auf die nationale Fahndungsliste gesetzt hat, fällt ihr die Nähmaschine ein. Jene Singer, die ihre Urgroßmutter 1944 mitnahm, als sie mit Tochter und sechs Monate alter Enkelin – Kallas’ Mutter – von russischen Soldaten abgeholt wurde.
“Meine Großmutter hatte 15 Minuten, um zu entscheiden, was sie einpackt”, erzählt Kallas 2024 bei einem Treffen mit BRIGITTE in Berlin, damals ist sie noch Estlands Ministerpräsidentin. “Die Singer hat meine Familie in den zehn Jahren in Sibirien gerettet, sie konnten damit Kleidung nähen und etwas Geld verdienen.” Heute steht die Nähmaschine in Tallinn, im Haus von Kallas’ Eltern – voll funktionstüchtig. Sie selbst hat darauf Nähen gelernt.
Vor Russlands Machtstreben warnt Kaja Kallas, 47, schon lange. Bis zum russischen Überfall auf die Ukraine allerdings fast ungehört. Inzwischen mahnt sie nicht mehr nur, sie kämpft dafür, Russland politisch zu isolieren, der Ukraine alle Unterstützung zu geben. Dafür ließ die studierte Juristin in Estland zum Beispiel ein Gesetz ausarbeiten, das die Grundlage für den Einsatz im Westen eingefrorener russischer Staatsvermögen für Ukraine-Hilfen bildet.
Die Wucht, aus der heraus Kallas ins Weltgeschehen eingreift, ist keine physische, sie ist ein sehr feiner, schmaler Mensch. Es ist ihre Energie, ihre Entschlossenheit, ihr direkter Blick. Gern wäre sie 2024 Nato-Generalsekretärin geworden, doch in Brüssel hatte man Sorge, diese Personalie könnte die Konfrontation mit Russland verschärfen. So wurde sie im Dezember Außenbeauftragte der EU und verschiebt seither das Jobprofil, denn eigentlich soll sie vor allem diplomatisch arbeiten, zwischen den 27 Mitgliedsländern vermitteln.
Kallas aber reiste gleich am ersten Tag nach Kyjiw, stellte klar: Die Ukraine muss den Krieg gewinnen – was über die EU-Position, Russland dürfe nicht siegen, klar hinausgeht. Sie will die Verteidigungsausgaben erhöhen, den Außenministerrat zu einem echten politischen Entscheidungsgremium machen, und sie überlegt, wie es gelingen kann, China für seine Unterstützung des russischen Krieges zur Rechenschaft zu ziehen.
Sie würde “Russen zum Frühstück essen”, zitierte 2024 ein Polit-Magazin eine anonyme EU-Quelle. Prompt postete Kallas ein Foto ihres Frühstücks, mit Blaubeeren und Müsli, ohne Putin. Ein spontaner Einfall, erzählt sie in Berlin und lacht. “Es gab Kommentare, die meinten: Okay, sie verfrühstückt Putin vielleicht nicht – aber die verhext ihn in eine Beere.”
Die Herausforderin
Jekaterina Dunzowa, Putins Gegenkandidatin
© Natalia Kolesnikova
Sie wählt ihre Worte genau, schließlich lebt sie in einem Land, in dem eine unbedachte Aussage gefährlich sein kann. Doch was Jekaterina Dunzowa, 41, zwischen den Zeilen sagt, genügt, um das Regime herauszufordern. Genau das ist das Ziel der alleinerziehenden Mutter dreier Kinder: Die Journalistin und Juristin wollte 2024 bei der russischen Präsidentschaftswahl antreten – ihre Kandidatur scheiterte an vermeintlichen Formfehlern. Aufgegeben hat sie deshalb nicht.
Jekaterina Dunzowa stammt aus Rschew, einer Kleinstadt zwischen Moskau und Sankt Petersburg. Sie arbeitete als Chefredakteurin bei einem regionalen Sender, bis der unter dem Druck staatlicher Repressionen geschlossen wurde. Von 2019 bis 2022 war sie Abgeordnete der örtlichen Duma, nahm dabei zunehmend oppositionelle Standpunkte ein. Im Januar 2024 gründete sie die Partei “Morgendämmerung”, als eine Alternative zum autoritären Regierungskurs. Vier Monate später wurde sie als “ausländische Agentin” eingestuft – der Begriff ist ein politisches Werkzeug, um Oppositionelle und Organisationen zu diskreditieren.
Doch Jekaterina Dunzowa macht weiter. Ein Ziel der “Morgendämmerung” ist es, unabhängige Kandidatinnen und Kandidaten für lokale Wahlen zu unterstützen. Sie setzt auf junge Menschen, digitale Kommunikation, organisiert Parteiversammlungen an wechselnden Orten, um der Überwachung zu entgehen. Ihre Strategie: kleine Schritte, die wirken.
Die Dokumentarin
Irina Scherbakowa, Historikerin
© teutopress
Die 75-jährige Historikerin und promovierte Germanistin Irina Scherbakowa ist keine Frau, die abwartet, bis Unrecht in Vergessenheit gerät. Sie begann schon in den 1970ern, per Interviews Geschichten von Opfern des Stalinismus zu dokumentieren – in einem Land, das die eigene Geschichte systematisch verschleierte. 1989 gründete die Moskauerin die Organisation “Memorial”, die zu einem Archiv für die Aufarbeitung politischer Verbrechen und einer Plattform für Menschenrechte in Russland wurde. Mit Putins wachsender Macht wurde diese Arbeit schwieriger.
2021 folgte das endgültige Verbot: “Memorial” wurde kriminalisiert, die Mitglieder verfolgt, Scherbakowa zur Volksfeindin erklärt. Im März 2022 verließ sie ihre Heimat. Nicht aus Angst, wie sie in einem Interview erklärte, sondern aus Zorn über die Unmöglichkeit, ihre Arbeit fortzusetzen: “Nicht einmal in den dunkelsten Zeiten der Sowjetunion haben mein Mann und ich über Emigration nachgedacht”, sagt sie. Sie zog nach Israel, bevor sie in Deutschland ein Zuhause fand.
Hier gründete sie “Zukunft Memorial”: Unterstützt von der Körber-Stiftung richtet sich die Initiative besonders an Jugendliche aus der russischen Diaspora – junge Menschen, die nicht nur mit dem Verlust ihrer Heimat kämpfen, sondern auch mit dem schwierigen Erbe eines autoritären Regimes. Die Projekte sollen ihnen helfen, ihre Herkunft zu verstehen und sich kritisch mit der Vergangenheit ihres Landes auseinanderzusetzen.
So oft sie kann, erhebt Irina Scherbakowa ihre Stimme gegen das Putin-Regime, warnt eindringlich vor einer Politik des Nachgebens: Aus Furcht, Bequemlichkeit oder wirtschaftlichen Interessen habe man zu lange weggeschaut. Sie sieht ihre Aufgabe darin, die Verfälschung von Geschichte zu verhindern und Putins Systematik offenzulegen. Erinnerung kann eine Waffe sein im Kampf für eine gerechtere Zukunft – es ist ihre Waffe.
Die Mahnerin
Anne Applebaum, Publizistin
© Dwi Anoraganingrum
Die Historikerin und Publizistin Anne Applebaum, US-Amerikanerin und Polin, verheiratet mit dem derzeitigen polnischen Außenminister Radosław Sikorski, befasst sich schon seit Jahrzehnten mit Wladimir Putin. Sie gilt weltweit als eine der einflussreichsten Kenner:innen der Geschichte der Sowjetunion und Russlands.
Die 60-Jährige hat schon früh vor Putin gewarnt und viel beachtete Bücher publiziert, unter anderem über die sowjetischen Straf- und Arbeitslager, den sogenannten Gulag, und die Hungersnot in der Ukraine in den 30er-Jahren. “Achse der Autokraten” heißt ihr neuestes Werk, im Herbst 2024 wurde sie mit dem hoch angesehenen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Bei der Verleihung in der Frankfurter Paulskirche redete sie dem Westen ins Gewissen, sich dem Druck des russischen Präsidenten entgegenzustemmen. Und zwar durch die Unterstützung der Ukraine. Diese Aufgabe sei keineswegs nur militärischer Natur, mahnte sie: “Das ist ein Kampf gegen die Hoffnungslosigkeit, den Pessimismus und die schleichende Anziehungskraft der Autokratie, die zuweilen im Gewand einer verlogenen Sprache des Friedens daherkommt.” Wer die Zerstörung fremder Demokratien akzeptiere, sei auch weniger bereit, gegen die Zerstörung der eigenen Demokratie zu kämpfen.
Ihre Botschaft besonders an die Menschen in Deutschland: “Das ist die eigentliche Lehre aus der deutschen Geschichte: Nicht, dass Deutschland nie wieder Krieg führen dürfe, sondern, dass Sie eine besondere Verantwortung dafür haben, sich für Freiheit einzusetzen.”
Die Einende
Maia Sandu, Staatspräsidentin von Moldau
© Christian Liewig
Sie gilt als “Eiserne Lady” mit einem “Rückgrat aus Stahl”, seit sie nach ihrem Amtsantritt 2020 als erste Staatspräsidentin der kleinen Republik Moldau hart gegen Korruption durchgriff. Inzwischen ist die 59-Jährige zu einer Hoffnungsträgerin der Demokratie geworden. Denn als Maia Sandu Ende 2024 wiedergewählt wurde, war es auch ein Sieg gegen Putin. Mit massiver Wahlmanipulation – Stimmenkauf, Wählerbestechung und Desinformationskampagnen – hatten prorussische Kräfte versucht, Sandus Erfolg zu verhindern. Sie nannte diesen hybriden Krieg einen “in der Geschichte Europas beispiellosen Angriff auf die Demokratie”. Und bedankte sich nach ihrem Sieg bei ihrem Volk: “Heute haben Sie Moldau gerettet.”
Ihr Kurs Richtung Europa ist für die Harvard-Absolventin und ehemalige Weltbank-Beraterin spätestens seit Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine klar. Seither hat Sandu das verarmte Land näher an die EU geführt. 2022 wurde es Beitrittskandidat. Nach einem Referendum steht die EU-Integration Moldaus nun als Staatsziel in der Verfassung.
Für Putin gehört das seit 1991 unabhängige Moldau jedoch zur russischen Einflusszone, im prorussischen Gebiet Transnistrien im Osten ist schon seit Jahren russisches Militär stationiert. Viele sprechen von einem gespaltenen Land.
Sandu will das nicht zulassen. In ihrer Antrittsrede wandte sie sich versöhnlich auch an jene, die sie nicht gewählt hatten. Sie wolle eine Präsidentin für alle sein, sagte sie auf Russisch: “Wir brauchen Zusammenhalt.”
Die Furchtlose
Julija Nawalnaja, Menschenrechtsaktivistin
© Frank Hoermann / Seven Simon
Die Bilder ihrer Rede vor der Münchener Sicherheitskonferenz am 16. Februar 2024 gingen um die Welt. Da stand Julija Nawalnaja, 48, erschüttert, aber gefasst, in einem schwarzen Kleid, und rief die internationale Gemeinschaft auf, gegen das “furchtbare Regime” Putins zu kämpfen. Kurz zuvor hatte sie erfahren, dass ihr Mann Alexej Nawalny nach fast drei Jahren Isolationshaft in einem russischen Straflager gestorben war. Drei Tage später ging ein Video viral, in dem sie verkündete, sie werde seine Arbeit fortführen und alles daransetzen, Putin zur Verantwortung zu ziehen.
Sie wollte nie Politikerin sein, hat die studierte Ökonomin mal gesagt. Erst als ihr Mann 2021 am Moskauer Flughafen festgenommen wurde, übernahm sie die Rolle der Aktivistin. “Habt keine Angst”, rief sie den Menschen zu, die vor dem Flughafen gewartet hatten. Heute ist sie das Gesicht der im Exil verstreuten russischen Opposition, lebt mit ihrem 16-jährigen Sohn an einem unbekannten Ort in Deutschland, die Tochter, 23, studiert in den USA.
Den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verurteilt sie scharf, Putin nennt sie einen “Mafiosi”, der dafür zur Rechenschaft gezogen werden müsse. Im Juli 2024 verhängte ein Moskauer Gericht einen Haftbefehl gegen sie – sie gehöre einer “extremistischen Organisation” an. Einschüchtern lässt sich Julija Nawalnaja davon nicht. “Putin hat keine Superkräfte”, sagte sie im Interview. Die Welt habe zu viel Angst vor ihm. Wenn er nicht mehr an der Macht sei und sie zurückkehren könne, werde sie als Präsidentin kandidieren.
Die Hardlinerin
Elina Valtonen, Finnlands Außenministerin
© Maurizio Gambarini
Nicht nur aus geschichtlichem Blickwinkel, auch aus der Berufspraxis der Außenministerin beobachtet Elina Valtonen, 43, die expansiven Ambitionen Putins. Finnland grenzt auf 1340 Kilometer an Russland; Valtonen, die als Kind in Bonn zur Schule gegangen ist und exzellent Deutsch spricht, mahnt immer wieder: Man müsse die Warnungen der westlichen Sicherheitsdienste ernst nehmen, dass Russland schon Ende des Jahrzehnts in der Lage sein könnte, einen Nato-Staat anzugreifen.
“Wir müssen endlich verstehen, dass das uns alle betrifft. Wirklich jeden!”, sagte sie unlängst im NDR. “Die Kriegswirtschaft und die erklärten Ziele Russlands zeigen: Das wird nicht aufhören.” Das jüngste Nato-Mitglied Finnland liefert ohne Auflagen oder Beschränkungen Waffen an die Ukraine: “Die Ukraine hat das Recht, sich zu verteidigen, wir haben das Recht, die Ukraine dabei zu unterstützen”, und das Völkerrecht besage, dass auch militärische Ziele auf Seiten des Aggressors ins Visier genommen werden dürfen, so Valtonen, die in Helsinki Wirtschaft studiert hat, als Analystin bei Banken, später in einer Denkfabrik gearbeitet hat, der konservativen “Sammlungspartei” angehört und 2023 Außenministerin wurde.
Im Verteidigungsfall könnte Finnland, das mit gerade einmal 5,6 Millionen Einwohner:innen eine der stärksten Armeen Europas besitzt und die allgemeine Wehrpflicht nie aufgegeben hat, 900 000 Soldaten und Reservistinnen aktivieren. “In der Geschichte sind wir zwanzig Mal in verschiedenen Formen von Russland überfallen worden. Das trägt man in der DNA.”
Die Rechercheurin
Oleksandra Matwijtschuk, Friedensnobelpreisträgerin
© Eva Manhart
Wie beweist man, was wirklich in einem Krieg geschieht? Wie quantifiziert man Unrecht, schafft eine Grundlage dafür, dass ein Kriegsverbrecher wie Wladimir Putin eines Tages von einem Gericht tatsächlich zur Rechenschaft gezogen wird? Oleksandra Matwijtschuk, 41, versucht es.
Sie und das Team des ukrainischen Center for Civil Liberties (CCL), das sie leitet, decken Gräuel schonungslos auf, sammeln gerichtsfeste Beweise. Das Center begann mit der Dokumentation russischer Verbrechen bereits 2014, als der Westen noch dachte, Putins Aggression bleibe auf die Ost-Ukraine und die Krim beschränkt. Damals schickte es als erste Menschenrechtsorganisation Teams los, um die Kriegsverbrechen festzuhalten.
Ihre Methode: Informationen, die ihnen in den besetzten Gebieten zugetragen werden, lassen sie unabhängig von drei verschiedenen Quellen bestätigen – erst dann gelten sie als verlässlich. Schon im ersten Kriegsjahr 2022 konnte das Center auf diese Weise 33 000 Kriegsverbrechen als gesichert dokumentieren.
Matwijtschuk kommt aus einer Kleinstadt in der Nähe von Kyjiw, studierte Jura und begann 2007 beim CCL, das damals gerade neu gegründet worden war, um Menschenrechte und Demokratie in der Ukraine zu stärken und korrupte Staatsstrukturen aufzudecken. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist es nun fast ausschließlich mit russischen Kriegsverbrechen befasst.
2021 bekam Matwijtschuk dafür den Sacharow-Preis des EU-Parlaments, im Oktober 2022 wurde das CCL mit dem Alternativen Nobelpreis und auch dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Auf der Preisverleihung erklärte Oleksandra Matwijtschuk, dass es für sie im Umgang mit Russland keine Kompromisse gebe: Der Krieg in der Ukraine sei ein Kampf zwischen Autoritarismus und Demokratie. Um ihn weiterzukämpfen, hat sie Kyjiw, wo sie mit ihrem Mann Oleksandr lebt, seit dem ersten Kriegstag nicht mehr verlassen.
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