Experteninterview mit Tim Spector: Kalorien gleich Energie?

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Theoretisch ja. Der Mediziner Tim Spector findet trotzdem, dass wir endlich aufhören können, unsere Kalorien zu zählen.

BRIGITTE: Jahrzehntelang wurde uns eingeimpft, dass wir unseren Kalorienverbrauch im Blick behalten sollen. Was ist denn falsch daran?

TIM SPECTOR: Es gibt verschiedene Gründe, endlich damit aufzuhören. Erstens: Weil Kalorienreduktion als Methode, Gewicht zu verlieren, nicht funktioniert. Der Körper passt sich an, drosselt seinen Stoffwechsel und erhöht den Appetit. Die meisten Menschen nehmen langfristig wieder zu, das zeigen die steigenden Zahlen an Übergewichtigen. Zweitens: Es ist quasi unmöglich, den Kaloriengehalt exakt zu bestimmen und zu berechnen, wie viel man am Tag verbrennt.

Und drittens?

Eine Kalorie ist nicht gleich eine Kalorie. Nehmen wir zum Beispiel ganze Nüsse im Vergleich zu gemahlenen: Sie haben denselben Kaloriengehalt, aber trotzdem einen unterschiedlichen Effekt auf den Körper. Von den ganzen Nüssen verwertet der Körper gar nicht alle Kalorien. Lebensmittel verändern außerdem ihren Energiegehalt, je nachdem, wie man sie zubereitet. Rohes Rindfleisch-Tatar liefert dem Körper weniger Kalorien als ein gut durchgebratener Burger. Und 200 Kalorien aus Gummibärchen sind nicht zu vergleichen mit 200 Kalorien aus Erdnüssen, weil der Zucker im Gummibärchen schnell in den Blutkreislauf aufgenommen wird, der Glukosespiegel steigt an. Das steigert den Appetit und führt zu Entzündungen, wenn das oft auftritt. Bei Erdnüssen passiert das nicht. Es gibt aber noch einen vierten Punkt: Das Kalorienzählen wird von der Lebensmittelindustrie dazu genutzt, uns zu überreden, Lebensmittel mit wenig Kalorien, aber schlechter Qualität zu essen.

Das müssen Sie bitte erklären …

Im Supermarkt findet man viele Produkte mit Labeln wie low-calorie oder low-fat. Studien zeigen, dass diese stark verarbeiteten Lebensmittel – im Vergleich zu Mahlzeiten mit derselben Kalorienzahl und zu Hause frisch zubereitet – uns dazu bringen, 25 Prozent mehr zu essen. Sie erhöhen unseren Appetit, wir nehmen zu. Das Problem ist also: Wenn wir uns auf die Kalorien konzentrieren, achten wir nicht auf die Qualität der Lebensmittel – nämlich solcher, die gut sind für unseren Darm zum Beispiel.

Was sollten wir also stattdessen essen, um uns fit und voller Energie zu fühlen?

Für Menschen, die gesünder leben wollen, und zwar nachhaltig, ist der erste Schritt: Sich von der Idee zu verabschieden, dass alle Probleme in sechs Wochen gelöst sind. Wir mögen schnelle, einfache Lösungen. Deswegen war Kalorienzählen so erfolgreich, deswegen haben Unternehmen mit Gewichtsverlust Millionen verdient. Aber wenn wir qualitativ hochwertig essen, verbessert das unsere Gesundheit und unser Energielevel – und das dauert.

Was packe ich dafür auf meinen Teller?

Viel unterschiedliches Essen, zum Beispiel 30 verschiedene Pflanzen pro Woche, fermentierte Lebensmittel, jede Menge Ballaststoffe. Das reduziert den Appetit, verbessert die Stimmung und das Energielevel. Nichts ist verboten, es ist eine Frage der Balance. Snacken ist allerdings ein Problem. In Großbritannien kommen 22 Prozent der Kalorien vom Snacken. Deutschland ist da fast gleichauf.

Heißt das, man muss selber kochen? Dafür haben viele keine Zeit.

Es ist aufwendig, seine Muster zu verändern, klar. Ich denke, wir sollten mehr Zeit in unser Essen investieren, zum Beispiel das Frühstück gesund und herzhaft gestalten, im Supermarkt nach gesünderen Alternativen schauen, etwas Gesundes vom Abendessen des Vortages mit zur Arbeit nehmen statt Fertigessen kaufen, hochverarbeitete Lebensmittel erkennen, indem wir auf die Zutatenliste schauen. Stehen dort nur wenige, mir bekannte Inhaltsstoffe, ist das ein gutes Zeichen. Und: Wir müssen nicht sechsmal am Tag essen. Zwei- bis dreimal reicht.

Sie raten auch dazu, nicht so sehr auf Proteine, Kohlenhydrate und Fette zu achten.

Das Problem ist: Wir reduzieren die Komplexität von Lebensmitteln, die Tausende Stoffe enthalten, auf diese drei Gruppen. Wir bewerten Proteine als gut, Fette als schlecht und Kohlenhydrate auch. Lebensmittelfirmen nutzen diese Bewertung für ihr Marketing. Das verstellt den Blick auf die Qualität: Zum Beispiel, dass ein Protein-Riegel 20 Stoffe enthält, die man nicht in seiner Küche findet, die dem Körper schaden, die Hungersignale auslösen. Was wir nicht genug bekommen, sind Ballaststoffe, eine Form von Kohlenhydraten. 95 Prozent von uns nehmen zu wenig davon auf.

Also mehr Gemüse essen?

Genau. Die enthalten viele Ballaststoffe. Und vor allem auch Polyphenole.

Was ist das?

Das sind Stoffe, mit denen Pflanzen sich verteidigen: gegen Fressfeinde, Wind, Kälte, Insekten, Infektionen. Es gibt Tausende davon – und sie sind echte Superhelden. Wenn wir sie essen, sie sind übrigens in der Regel bitter und stecken in bunten Gemüsesorten, helfen sie unseren Darmbakterien. Sie versorgen die Bakterien mit Energie, damit sie wachsen und sich vermehren können. Olivenöl, Kaffee, Nüsse, dunkle Schokolade und bunte Beeren enthalten zum Beispiel viele Polyphenole.

Ganz kurz: Was sind Ihre Top-5-Tipps für ein längeres Leben?

Wenn wir so lange wie möglich gesund bleiben wollen, sollten wir uns um unsere Darmmikroben kümmern, indem wir: 1. Dreißig verschiedene Pflanzen pro Woche verzehren. 2. Den Regenbogen essen: möglichst bunte und vielfältige Lebensmittel, die reich an Polyphenolen sind. 3. Fermentierte Lebensmittel wie Sauerkraut, Kefir, Kimchi und Joghurt zu uns nehmen. 4. Ausprobieren, ob wir eine Essenspause von 14 Stunden oder länger über Nacht einhalten können. Und 5. hochverarbeitete Lebensmittel reduzieren – auf unter 15 Prozent statt aktuell 50 bis 60 Prozent. Das sind Fake Foods, die den Hunger anregen.

Tim Spector
Tim Spector ist Professor für genetische Epidemiologie am Londoner King’s College, Experte für personalisierte Medizin und Autor (“Nahrung fürs Leben”, 684 S., 32 Euro, Dumont).

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Source: Aktue