Expertinneninterview: Wissenschaftsautorin Gaby Guzek erklärt: Wege aus der Sucht

Aktuel

Zu verstehen, was im Gehirn passiert, wenn man Alkohol trinkt, zockt oder raucht: Wie das aus der Abhängigkeit helfen kann, erklärt Wissenschaftsautorin Gaby Guzek.

Fast acht Millionen Menschen zwischen 14 und 64 trinken in Deutschland Alkohol in gesundheitlich riskantem Maß. Auch wenn vielen vermutlich bewusst ist, dass sie abhängig sind, schaffen sie nicht den Schritt hinaus. Kommen viele auch deshalb nicht von ihrer Sucht los, weil ihnen niemand erklärt, inwiefern das Belohnungssystem in ihrem Hirn sie in Schach hält?

Gaby Guzek: Es ist nicht bei allen der alleinige Grund, aber es hilft enorm, wenn man versteht, wie Abhängigkeit im Gehirn funktioniert und warum man sie nicht mit bloßer Willenskraft in den Griff kriegen kann. In den USA wird bereits viel mit diesem Ansatz gearbeitet, dort gibt es Kliniken, die den Betroffenen Scans vorlegen, die dann deutlich zeigen, wie Botenstoffe im Hirn durch Alkohol, Nikotin, Cannabis aus dem Gleichgewicht geraten. Das hat in der Therapie großen Erfolg.

Trotzdem hält sich immer noch der Glaube, dass Sucht etwas mit Willensschwäche zu tun hat und sich Betroffene nur einfach mal mehr zusammenreißen müssen.

Ja, und das wird kräftig von der Alkohol- und Zigarettenlobby befeuert: Die preisen ihre Produkte für den “maßvollen Genuss” an, was ja im Umkehrschluss heißt: Wer das Maß nicht einhält, ist schwach und somit selbst schuld. Was dazu führt, dass sich die Betroffenen schämen und jahre-, jahrzehntelang keine Hilfe holen.

Sie waren lange Zeit selbst alkoholabhängig.

Ich fing als die klassische Entspannungstrinkerin an, mit Job und drei Kindern und immer auf der Überholspur. Alkohol war mein Mittel, um runterzufahren, und dann wurde es immer mehr – über 20 Jahre hinweg.

Wann konnten Sie sich eingestehen, dass Sie süchtig sind?

Erst ganz am Ende. Da gab es diese eine Nacht, in der ich so richtig realisiert habe: Du hast ein ernsthaftes Problem. Ich lag wach, weil ich viel zu viel getrunken hatte, ich hatte Herzrasen und fühlte mich elend. Ich konnte nicht glauben, dass bei mir psychische Probleme der Hauptgrund waren, weil ich eine gute Kindheit gehabt hatte, mein Leben war gut – ich konnte nur nicht aufhören zu saufen. Ich hatte den Eindruck, dass es eher mein Körper war, der da durchdreht, als meine Psyche. Je mehr ich über meine Hirnchemie lernte, desto besser konnte ich mit der Sucht umgehen. Das war vor sieben Jahren mein Ausstieg.

Was genau half Ihnen?

Eine Vorstellung davon zu haben, dass Abhängigkeit ein biochemisches und neurologisches Ereignis im Gehirn ist. Es ist wie ein Schlüssel: Man ist der Sucht nicht mehr ausgeliefert, sie ergreift einen nicht mehr. Einer Rheumatikerin erklärt ein Arzt ja auch, wie das Immunsystem funktioniert – diese Aufklärung brauchen Suchtkranke auch.

Käme das allen Betroffenen gleichermaßen zugute?

Nein, wenn eine Depression unter der Sucht liegt, oder ADHS oder ein Trauma, und die Leute ihren Suchtstoff zur Kompensation dieser Erkrankungen brauchen, ist es schwieriger. Aber sicher ist, dass es für jede und jeden zumindest ein Baustein ist. Für einige ist es auch, neben den Instrumenten der klassischen Suchttherapie wie etwa Stressmanagement, der letzte Schritt hinaus. Die Vorstellung, ich kann meine Suchtautobahn im Kopf veröden lassen, gibt mir einen neuen Zugang.

Was passiert im Kopf, wenn wir in eine Abhängigkeit geraten?

Es gibt im Hirn einen Chemiecocktail aus rund 100 Nervenbotenstoffen, Serotonin zum Beispiel, den Glücksbotenstoff, oder Adrenalin, das in Schreckmomenten ausgeschüttet wird. Vereinfacht gesagt gibt es “Aufreger” und “Beruhiger”, die normalerweise in der Balance sind. Alkohol, Cannabis, aber auch Glücksspiel oder Pornosucht verschieben diese Balance so, dass wir uns während des Konsums happy und entspannt fühlen, aber der Körper regelt gleichzeitig gegen, weil er die Verschiebung ausgleichen will – deshalb fühlt man sich nach dem Konsum deutlich schlechter, und das Loch, in das man dann fällt, ist noch tiefer. Man muss häufiger und immer mehr konsumieren, um wieder herauszukommen.

Und doch werden nicht alle Menschen, die mal kiffen oder Lotto spielen, süchtig. Ist bei ihnen von Natur aus der biochemische Cocktail anders gemixt?

Richtig. Nehmen Sie unsere Urahnen: Man hat gejagt und dann gegessen, bis man satt war, und hatte die entsprechenden Dopamin-Ausschüttungen, ohne mehr zu wollen. Wer Glück hat, erlebt diesen Zustand auch bei potenziellen Suchtmitteln wie Alkohol. Er ist einfach zufrieden, und damit ist es gut. Die Hirnchemie schlägt bei diesen Menschen einfach nicht so aus.

Kann man bei Abstinenz sein Suchthirn neu vernetzen?

Ja, man kann neue Verknüpfungen schaffen. So wie ein Schlaganfallpatient auch wieder sprechen lernen kann. Ganz verschwinden wird die Suchtbahn aber wahrscheinlich nicht. Es gibt Studien, die zeigen, dass manche Menschen nach überwundener Sucht wieder ein normales Trinkverhalten zeigen können. Ich halte das aber für gefährlich, schon weil es die perfekte Ausrede liefert, wieder mit dem Alkohol anzufangen. Abstinenz ist ein großes Paket, es heißt auch, das Leben zu ändern, sich nicht mehr zu überfordern, einfach achtsamer zu leben.

Früher hieß es, dass süchtige Menschen erst in der Gosse landen müssen, damit sich was verändert.

Der Satz macht mich regelrecht wütend. Manche müssen tatsächlich sehr weit kommen, damit ihr Selbsterhaltungstrieb anspringt. Aber wenn ich meinen tollen Ehemann nicht gehabt hätte, der mich liebevoll durch diese wirklich schwere Zeit begleitet hat, dann hätte ich es nicht geschafft. Er hat sich auch im richtigen Moment abgegrenzt, aber mich nicht fallen lassen. Das ist ein großer Unterschied.

Gaby Guzek, 56, ist seit mehr als 30 Jahren Fachjournalistin für Wissenschaft und Medizin. Ihr aktuelles Buch “Die Suchtlüge” ist bei Heyne erschienen (13 Euro).

Heftbox Brigitte Standard

Source: Aktue