Familienkolumne: Wenn die Tochter flügge wird

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Die Tochter unseres alleinerziehenden Autors ist 15 und wird flügge. Von wegen, Väter seien da entspannter als Mütter …

Wir sind in Valencia, Tochter und ich, Sprachschule. Der Plan ist, dass sie vormittags in die Schule geht und Spanisch lernt, nachmittags gehen wir dann zusammen los und besichtigen die Sehenswürdigkeiten dieser doch sehr schönen Stadt. “Nein”, sagt das Kind, sie hätte Caitlin kennengelernt, Amerikanerin aus Singapur und cooler als ich. Dazu Montana aus Kalifornien und Shaana aus Texas. “Auch cooler als du.” “Mit denen habe ich mich nachher am Strand verabredet”, sagt sie am nächsten Tag. Da ist eine Party und sie findet allein hin. Ich grunze und merke an, dass sie noch nie in dieser Stadt war. Sie versteht nicht, was ich von ihr will. Sie sagt, es gäbe zwei Optionen. Nummer eins: “Ich geh los und du bist einverstanden.” Ich frage nach Nummer zwei. “Ich geh los und du bist nicht einverstanden.” Ich finde, dass sie nicht einfach in einer fremden Stadt rumrennen kann, schließlich ist sie erst 15. Sie sagt, sie kommt aus St. Pauli. Da kann ich nichts gegen einwenden, also sage ich: “Zieh halt ab.”

Und dann sehe ich sie selten in den restlichen Wochen, sie schläft bei mir, meistens zumindest, manchmal auch bei Caitlin, aber eigentlich werde ich ab diesem Tag zum Alleinreisenden. Ich habe daraufhin zwei Tage extrem schlechte Laune – weil mir bewusst wird, dass wir eine Beziehung auf Zeit haben, und diese Zeit langsam abläuft. Ich fühle mich wie ein alter Studiosus-Reisender, der sein Alleinsein mit dem Wissen über irgendwelche Kirchen überspielen muss. Ich löse das vor Ort, in dem ich sehr viel trinke, das hilft kurz, aber macht es letztlich natürlich nur noch schlimmer, weil ich dann alleinreisender Alkoholiker bin. Ich freue mich, dass das Kind so viel Selbstvertrauen hat, dass es in fremden Städten alleine rumrennt– und trotzdem macht mich die Gesamtsituation fertig. Denn Aufsichtsperson bin ich ja nach wie vor. Und das fühlt sich genauso an, wie es klingt: umständlich und im Weg. Und darauf hat ja niemand Lust. Sie nicht, ich auch nicht.

Sie fährt also zum Strand, und weil ich meiner Ex-Frau nicht erzählen kann, dass ich unsere Tochter in Valencia verloren habe, fahre ich hinterher.Ich weiß: unangenehm und peinlich. Ich versuche cool zu sein, aber die Wahrheit ist: Wenn meine Tochter nicht da ist, schlafe ich nie und bin so nervös, dass ich tausendmal aufs Klo gehe.

Grenzen kennenlernen und jede Menge Liebe 

Das ist auch in Hamburg so. Allerdings erlaube ich alles, wenn das Kind mich argumentativ davon überzeugen kann, dass es wichtig ist, was sie tut. Auch wenn ich es innerlich ablehne. Sie denkt, dass sie am Wochenende feiern muss? Go for it. Wie soll man seine Grenzen kennenlernen, wenn man sie am Anfang nicht überschreitet. Wir haben kein Zeitlimit fürs Nachhausekommen. Was soll das bringen? Wenn all ihre Freundinnen auf einer Party sind, wenn sie in der Schule okay gut bleibt, wenn sie keine saudummen Entscheidungen trifft (dumme wird sie garantiert treffen), wenn sie weiterhin zum Sport geht, dann ist doch alles gut.

Neulich habe ich mal gegoogelt: “Was ist das Wichtigste an der Kindererziehung?” Antwort: die Liebe zum Kind. Gut, dachte ich, das erfülle ich. Wenn ich ihr das sage, “Kind, ich habe dich sehr lieb”, und sie dann umarmen will, sagt sie “Vadder”, Hamburger Slang, “das weiß ich doch” und dreht sich weg. Ich glaube, das ist alles richtig so. Kinder gehen mir ja tendenziell auf die Nerven, das ist bei meinem auch nicht anders – also mache ich einerseits Ansagen, lasse mich andererseits aber auch davon überzeugen, wenn die Ansage bekloppt ist. Und dann bin ich der Letzte, der darauf besteht.

Abgesehen von der Liebe sind ja zwei Dinge wichtig: Persönlichkeit achten. Glaubwürdig bleiben. Ich kann nicht sagen, “Du trinkst keinen Alkohol” und dann treffe ich mich mit meinen Kumpels und trinke ein Bier nach dem anderen. Was ich sagen kann, ist: “Trink nicht so viel, du bist erst 15.” Und dann kann ich ihr erklären, dass Alkohol ein Zellgift ist. Meiner Erfahrung nach funktioniert dieser Ansatz. Aber Dinge ändern sich, denn vor ein paar Jahren sagte ich noch: Fall nicht aus dem Fenster, spiel nicht mit Feuer. Heute sage ich: Nimm keine Drogen, die du nicht kennst.

Erziehung ohne Ratgeber

Sie antwortet dann manchmal: “Alle anderen sind okay?” Und auch deswegen sitze ich am Strand in Valencia und bin nervös. Es riecht nach Gras. Ich habe keine Ahnung, wo das Kind ist. Ich habe zwei Dosen Bier gekauft, um mich zu entspannen. Es klappt nur halb. Ich vertraue ihr, ich kontrolliere sie nicht, natürlich nicht. Auch wenn mir das schwerfällt (Gott, fällt mir das schwer). Zu Hause höre ich auf jede Sirene und bete, dass das mit ihr nichts zu tun hat. Ich laufe in der Wohnung hin und her wie ein eingesperrtes Tier. Letztlich werde ich zu meiner Mutter und zu meiner Oma gleichzeitig. Verantwortung zu haben und sie dann langsam abzugeben, ist das Schwerste, das es gibt.

Keine Ahnung, wie die anderen das machen. Laut Statistischem Bundesamt gibt es in Deutschland 239 000 alleinerziehende Väter und 1,33 Millionen alleinerziehende Mütter. Was meine Ex-Frau und mich betrifft: Da ist alles im Fluss. Ursprünglich als 50:50 geplant, hat sich die Betreuung im Laufe der Zeit immer mehr in meine Richtung verschoben. Hat sich einfach so ergeben, passt mir aber gut in den Kram. Schließlich möchte ich möglichst viel Zeit mit meinem Kind verbringen. Zweifel, dass das schiefgehen könnte, hatte ich nie. Ich glaube, Erziehung ist die einfachste Sache der Welt. Das Phänomen “Erziehungsratgeber” habe ich noch nie verstanden. Man behandelt Menschen mit Respekt, auf Augenhöhe, dann wird das schon.

Wenn meine Tochter zu ihrer Mutter will, bitte, wenn sie da vier Wochen bleiben will, nur zu. Wir telefonieren daher fast jeden Tag, die Mutter und ich, jeder ist kindermäßig immer auf dem neuesten Stand. Wir haben die beste Beziehung aller Nicht-Beziehungen, und immer wenn ich ein Problem habe mit der Tochter oder mich sehr freue über das Kind, rufe ich meine Ex-Frau an. Ich tippe also eine WhatsApp an sie: “Das Kind ist am Strand und ich habe keine Ahnung wo.” Und sie schickt mir eine Nachricht: “Atmen.” Danach: “Ommm.” Die hat leicht reden, denke ich, am Ende wird sie mir ja trotzdem vorwerfen, dass das Kind ertrunken ist.

Der Sommer der Abnabelung

Meine Ex-Frau war schon immer cooler als ich. Als unsere Tochter zum ersten Mal Kettenkarussell gefahren ist, in gefühlt hundert Meter Höhe, bin ich fast irre geworden vor Sorge, dass irgendein Bolzen reißt. Ihre Mutter: “Lass sie doch machen.” Und ich lass ja auch immer, schließlich ist die Welt kein Kokon, das Kind muss raus. Aber Loslassen ist das Härteste, das ich jemals gemacht habe. Bisher hatte ich mich bequem eingerichtet in unserer Vater-Tochter-Beziehung. Wir haben zusammen Superheldenfilme im Kino gesehen, Sparring gemacht, weil wir beide Kampfsport machen, wir hatten ein sehr kumpeliges Verhältnis. Und natürlich dachte sie immer, dass ich superstark, superschlau und supercool bin. Vorbei. Wenn wir jetzt irgendwo zusammen hingehen, sagt sie: “Kannst du bitte Abstand halten.” Es fühlt sich an, als würde ich Abstand von mir selbst halten müssen.

Irgendwann halte ich es nicht mehr aus und rufe sie an. Nach gefühlt tausend Anrufen geht sie ran. “Was?”, leicht genervt. Ich sorge mich, sage ich, großer Strand, viele Menschen, und sie sagt, ich solle mich entspannen. Sie habe eine gute Zeit mit ihren neuen besten Kumpels aus der Sprachschule. “Okay”, sag ich, dann mach halt mal. “Aber werd nicht schwanger.” Es ist der Sommer der Abnabelung, keine Frage. Aber eben nicht für sie: vor allem für mich. Ich werde abgenabelt. Und das geht doch eher ruckelig vonstatten.

Väter, habe ich neulich gelesen, fördern bei ihren Töchtern angeblich Ehrgeiz, Selbstständigkeit und Vertrauen in die eigene Kompetenz. Gerade in der Pubertät gilt, dass der Einfluss der Väter steigt und wichtiger werde als der der Mutter, weil sie weniger Probleme besprächen, als an deren Lösung arbeiteten. Das kommt mir sehr klischeehaft vor. Andererseits: Ich beschäftige mich ungern mit Quatsch, den das Kind alleine lösen kann, aber nicht, weil ich einen großen Erziehungsansatz verfolge, sondern weil sie mir oft auch auf die Nerven geht mit ihrem Teenagergenöle. Frauen mit einer starken Vater-Tochter-Beziehung, las ich in derselben Studie, träfen angeblich auch bessere Entscheidungen bei der späteren Partnerwahl und trauen sich mehr zu, weil sie keine männliche Bestätigung benötigen. Die gebe es schließlich schon.

Irgendwann klingelt mein Telefon. “Vadder”, sagt sie. Sie sagt, ich sei doch bestimmt noch am Strand. Woher weiß sie das? “Ich kenne dich.” Und dann fragt sie, ob wir zusammen mit der Bahn zurückfahren wollen. Wenn später mal jemand fragen sollte, was der beste Moment in Valencia war: genau der.

Heftbox Brigitte Standard

Source: Aktue