Gehirntraining: Warum das Verdrängen negativer Gedanken gesund sein kann

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In einer Zeit, in der wir uns dauerhaft selbst reflektieren und hinterfragen, hat Verdrängen einen miserablen Ruf. Dem wird es allerdings gar nicht gerecht – wie eine Studie nun herausfand – im  Gegenteil: Es könnte sogar gesund sein.

Achtsamkeit, mentale Gesundheit, Therapie und Aufarbeitung sind Schlagwörter des aktuellen Zeitgeistes. Eine ganze Generation ist auf der Suche nach Antworten und Heilung. Gesagtes wird hinterfragt, Verhalten analysiert. Was sind unsere Muster und wie können wir unser bestes Selbst werden. Ganz sicher nicht durch Verdrängung. Oder doch?

Verdrängung galt bislang als das Gegenteil von Reflektion und damit per se als ungesund. Wer wegschiebt, statt hinzuschauen, läuft Gefahr, früher oder später davon eingeholt zu werden. Verdrängung schadet der Psyche, so die gängige Annahme. Die wiederum beruht auf der Entdeckung des Unbewussten durch den Psychoanalytiker Sigmund Freud zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

In seiner Lehre ging er davon aus, dass der Mensch manche Konflikte, verbotene Bedürfnisse oder unliebsame Erinnerungen nicht wahrhaben will und sie daher tief in sein Innerstes zu verdrängen versucht. Doch dadurch würden negative Erfahrungen und Emotionen nur verschoben, von wo aus sie in Form von Träumen und Grübeleien immer wieder an die Oberfläche zu kommen versuchten. Für die mentale Gesundheit sei es daher essentiell, sich den schmerzlichen Erfahrungen zu stellen, um heilen zu können. Ein Ansatz, der auch heute, über 100 Jahre später eine wichtige Rolle in bestimmten Therapieansätzen spielt. 

Doch mittlerweile mehren sich die Hinweise darauf, dass die Fähigkeit, zu vergessen durchaus positive Aspekte hat und zuweilen sogar gesund und wichtig für das Weiterleben ist. 

Studie: Verdrängen kann der Psyche dienen

In einer aktuellen Studie haben Forschende der Universität Cambridge untersucht, inwieweit Verdrängen gut für unsere psychische Gesundheit sein kann. Dafür trainierte das Forschungsteam 120 Proband:innen aus 16 unterschiedlichen Ländern, unerwünschte Gedanken aktiv zu blockieren. Dadurch wurden diese Gedanken bei den Versuchspersonen danach nicht nur weniger lebhaft und intensiv wahrgenommen, es ging ihnen mental auch besser als vorher. 

Auch wenn die Aussagekraft der Studie aufgrund der vergleichsweise geringen Proband:innenzahl nicht unbedingt als repräsentativ gesehen werden kann, werden die Ergebnisse doch auch von anderen Beobachtungen und Untersuchungen untermauert.

So fand beispielsweise ein französisches Forschungsteam in einer Studie mit 102 Menschen, die 2015 den Terroranschlag auf den Pariser Klub Bataclan miterlebt hatten, heraus, dass der Schmerz des Erlebten den Alltag lähmen und sich mitunter urplötzlich Bahn brechen könne, wenn die Mechanismen der Verdrängung im Gehirn nicht ausreichend funktionierten. Dies konnte anhand von Hirnscans der leidenden Proband:innen beobachtet werden, die eine Störung des hemmenden Kontrollmechanismus im Gehirn aufwiesen, wodurch der Schutzmechanismus nicht wirkte.

Nicht jedes Problem muss aufgearbeitet werden

Aber auch Psycholog:innen erklären, dass Verdrängung nicht per se schlecht, sondern vielmehr essentiell ist, um im Alltag zu funktionieren und sich bewusst entscheiden zu können, sich zu passenden Zeitpunkten mit den Themen zu befassen, die Probleme verursachen, als zu Zeiten, in denen man sich beispielsweise um die eigenen Kinder kümmern muss oder im Job eingespannt ist. Gleichzeitig bedarf auch nicht jedes Problem generell einer Bearbeitung, erklärt Jan Kalbitzer, Facharzt für Psychiatrie und Leiter der Stressmedizin der Oberberg-Kliniken gegenüber GEO:

Wenn man kein übermächtiges Problem hat, muss man sich auch keines schaffen. Man darf filtern. Man muss nicht alles aus der Kindheit aufarbeiten.

Auch Rainer Richter, selbst psychoanalytisch ausgebildet und viele Jahre Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, bestätigt das. Viele Menschen lebten besser mit der Verdrängung. Psychische Abwehrmechanismen seien per se nicht negativ oder gar pathologisch.

Verdrängung kann bei Ängsten und Depressionen hilfreich sein

So deutet auch die aktuelle Studie daraufhin, dass das Gegenteil der Fall ist. Funktioniert dieser Schutzmechanismus nicht oder nicht so gut, kann es passieren, dass wir uns in negativen Gedankenspiralen und Grübeleien verlieren. Vor allem Menschen, die ängstlich oder depressiv sind, fällt es schwer, aus Gedankenkarussellen auszusteigen, wie eine 2021 erschienene Auswertung von 25 Studien ergab. Daraus folgten jedoch die Fragen, wie sich beides bedingt: Behindert die psychische Erkrankung die Fähigkeit, negative Gedanken zu unterdrücken? Oder trägt die fehlende Fähigkeit zum Unterdrücken womöglich auch zur Krankheit bei?

Um dem auf Grund zu gehen, untersuchten Michael Anderson und seine Co-Autorin Zulkayda Mamat, ob es Menschen, die unter belastenden Gedanken leiden, hilft, diese aktiv zu unterdrücken. Geht es ihnen dann besser? Und kann diese Fähigkeit, negative Gedanken aktiv zu unterdrücken, sogar trainiert werden? 

Aktives Verdrängungstraining als lernbare Strategie

Hierbei bezogen sie sich nicht auf Erlebnisse aus der Vergangenheit, sondern fokussierten sich auf zukunftsgerichtete Ängste und Befürchtungen. Diese versuchten sie aktiv zu beeinflussen. Hierfür wurden die Teilnehmer:innen in zwei Gruppen eingeteilt. Anschließend übten die Proband:innen mittels 20-minütiger Video-Trainings drei Tage lang, ihre Gedanken zu steuern.

Dabei wurden die Testpersonen mit für sie triggernden Schlüsselbegriffen auf einem Bildschirm konfrontiert. Ihre Aufgabe bestand darin, aktiv zu versuchen, nicht an das konkrete Szenario zu denken, sondern zu üben, jegliche Bilder und Gedanken, die das Wort auslöste, abzublocken, ohne sich dabei von anderen Gedanken ablenken zu lassen. Zur Kontrolle gab es eine zweite Gruppe von Proband:innen, auf deren Bildschirmen die Schlüsselwörter für neutrale Szenarien auftauchen. Auch sie sollten üben, die Gedanken daran zu unterdrücken. 

Am Ende des dritten Tages und dann noch einmal mit einem Abstand von drei Monaten wurden die Proband:innen befragt, wie sie die Szenarien inzwischen wahrnehmen würden, die sie aktiv verdrängen sollten. Die Teilnehmer:innen gaben an, diese als weniger lebhaft wahrzunehmen und dass sie auch weniger starke Emotionen auslösten, als es vorher der Fall gewesen sei. Von dieser Veränderung berichteten beide Gruppen, allerdings war der Effekt bei der Gruppe, die aktiv ihre angstvollen Gedanken und Bilder unterdrücken sollten, am größten, so Co-Autorin Zulkayda Mamat in einer Pressemitteilung. Diese Versuchsgruppe sagte außerdem, dass es ihnen mental besser gehe und sie weniger unter Ängsten, negativen Gefühlen und depressiven Gedanken litten.

Drohen Rückfälle?

Die Sorge darum, dass das Verdrängte die Proband:innen früher oder später doch wieder einhole, scheint bislang unbegründet. Zumindest gab nur einer der Proband:innen nach drei Monaten an, wieder öfter mit schmerzhafte Szenarien in Gedanken konfrontiert zu werden.

Demnach scheint Verdrängung ganz und gar nicht dem gängigen Narrativ zu entsprechen, dass es schädlich sein könnte. “Möglicherweise kann es sogar vorteilhaft sein, angstmachende Gedanken zu verdrängen”, so Anderson in der Pressemitteilung. Ob und in welchem Kontext es für psychisch kranke Menschen wirklich ratsam ist, Gedanken oder Erinnerungen aktiv zu verdrängen, lässt sich daraus nicht ableiten. Das bedürfe noch weiterer Untersuchungen. Gleichzeitig geht es auch nicht darum, alles Unangenehme und Schlimme zu verdrängen, vor allem dann nicht, wenn es Konsequenzen und Einschränkungen mit sich bringt. Es gilt also nach wie vor abzuwägen, wann es hilfreich sein kann, sich Probleme genauer anzusehen, und wann Verdrängung der bessere Weg ist. 

Manches lässt man lieber im Verborgenen

Hat ein Mensch Schlimmes erfahren, kann es sogar schädlich sein, das Erlebnis wieder an die Oberfläche zu holen. Vor allem das Sprechen über ganz besonders quälende Erlebnisse und Erfahrungen könne eine Retraumatisierung hervorrufen. Das Verdrängen als seelischer Schutzmechanismus hat durchaus eine Berechtigung, indem es traumatische Erlebnisse ins Unbewusste versenkt, sodass es für Betroffene überhaupt möglich ist, ihren Alltag zu bewältigen ohne die ganze Zeit daran denken zu müssen. 

Quelle: Geo.de, Zeit.de

Source: Aktue