Gewaltprävention: "Selbstzweifel führen häufig dazu, andere kleinzumachen"

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Wie können wir Gewalt und Machtmissbrauch vorbeugen? Pädagogin und Therapeutin Anja Jung plädiert dafür, den Fokus auf die Defizite potenzieller Täter:innen zu legen.

Das Erleben von Menschen, die Missbrauch, sexualisierte oder häusliche Gewalt erleiden mussten, ist eine wichtige Komponente bei der Enttabuisierung der Thematik. Doch für die Prävention sollte der Blick stärker auf die Ursachen und die Verursacher von Gewalt und Machtmissbrauch gerichtet werden.

Selbstbehauptungskurse bringen uns kaum weiter

Häufig werden Präventionsangebote gemacht, die Kinder und Frauen stärken sollen, damit sie sich besser vor Übergriffen schützen können. Ein Großteil dieser präventiven Ansätze – etwa sagen zu lernen “Stopp, das will ich nicht!” –, schiebt die Verantwortung den potenziell Betroffenen zu. Selbstbehauptungskurse für Mädchen und Frauen sowie die Einrichtung von Schutzräumen verstetigen den Eindruck, dass Frauen, Mädchen und Kinder vor Übergriffen geschützt werden müssen. Das reproduziert ein Klima der Angst und Unsicherheit. 

Statt Selbstbehauptungskursen für potenzielle Opfer wäre ein Perspektivwechsel für alle zielführender

Für die Jungen, die mehr friedliche Kommunikation lernen und ihre Gefühle in Worte fassen sollten, für die Mädchen, die tatsächlich mal aggressiv reagieren dürfen, und vor allem für die Erwachsenen.

Aggression wird häufig aus Angst gespeist

Ein Beispiel ist das Narrativ, wenn auf dem Schulhof Jungen aggressiv sind und Mädchen “ärgern”. Was wird den Mädchen (aber auch betroffenen Jungen) geraten? Von Müttern, Omas, Lehrkräften? “Das musst du ignorieren. Er mag dich halt und kann es einfach nicht anders zeigen.” Väter raten dann gern mal zum Zurückschlagen. Aggressionen sind aber kein Liebesbeweis. Körperliche oder verbale Attacken sagen nicht: “Ich steh auf dich!”, sondern “ich will die Situation unter Kontrolle haben”. Dich unter Kontrolle haben. Denn eigentlich habe ich Angst und die halte ich nicht aus. Hilfe kann ich mir nicht holen, das gilt als Schwäche. Also hole ich mir die Macht über die Situation zurück und drücke meine Hilflosigkeit, Unsicherheit und Verzweiflung in Aggression und Herabwürdigung aus. Und zack, fühle ich mich wieder stärker – mächtig statt ohnmächtig.

Was können wir also tun? Mädchen, Jungen, Männer und Frauen stärken. Emotional stärken. Gefühle erkennen, spüren, benennen, erklären und aushalten. Nicht bewerten, sondern wertschätzen. Wer sind wir ohne unsere Emotionen? Sie machen uns aus, sie bestimmen unser Leben. Sie nicht zu kennen, bedeutet, dass wir uns selbst nicht kennen. Kann ich unterscheiden zwischen Spannung und Angst, zwischen Vorfreude und Sorge, zwischen Trauer und Aggression? Wie oft verwechseln Menschen ihre Emotionen? Weil sie nicht den Unterschied zwischen nostalgischem Erinnern und Verlustangst kennen. Nicht unterscheiden können zwischen Hilflosigkeit und Wut. Liebe und Abhängigkeit. Unsicherheit und Hass.

Wenn wir in die Kommentarspalten sozialer Netzwerke schauen, wird das überdeutlich. Irritation aufgrund einer Meinung, die von der eigenen abweicht, führt zu Unsicherheit, manchmal zu Bedrohung. Was hilft vermeintlich? Abwehr. Statt sich mit den eigenen Unsicherheiten und den daraus resultierenden Möglichkeiten des eigenen Wachstums auseinanderzusetzen, wird mit Diffamierung, Angriff und Beleidigung reagiert. Dadurch wehre ich meine eigenen Unsicherheitsgefühle ab. Indem ich andere Meinungen und Menschen abwerte.

Die Empfindung von Macht verleiht Sicherheit

Dieser Mechanismus ist ein wesentliches Grundproblem sexualisierter Gewalt. Es geht um Macht. Um Macht über andere. Die Empfindung von Macht verleiht Sicherheit und Größe, statt sich ohnmächtig, klein und hilflos fühlen zu müssen. Das ist eine zentrale Erkenntnis. Wenn ich mich machtvoll fühle, geht es mir besser. Das legitimiert aber nicht den Missbrauch von Macht gegenüber Anderen, Schwächeren, Kleineren. Sondern es zeigt, wie wichtig es ist, ermächtigt zu sein. Eigene Entscheidungen treffen zu können und zu dürfen. Das eigene Leben gestalten zu können, statt fremdbestimmt Vorgaben, Regeln oder Konventionen einhalten zu müssen

In der Familie haben wir eine machtvolle Situation, weil Eltern die Entscheidungsgewalt(!) aufgrund ihres Erwachsenseins innehaben. Kinder erleben von Beginn an, dass über sie entschieden wird. Je hilfloser Eltern sich fühlen, desto größer ist die Gefahr, dass sie Gewalt ausüben, um (vermeintlich) die Kontrolle zu behalten. Denn was wäre schlimmer, als nicht zu wissen, wie die Situation zu lösen ist? Das könnte im schlimmsten Fall dazu führen, sich Hilfe holen zu müssen oder die eigene Unzulänglichkeit einzugestehen. Das ist in unserer Leistungsgesellschaft nicht gut möglich.

Scham und Schuldgefühle sind Gift fürs Selbstwertgefühl

Es braucht eine Fehlerfreundlichkeit. Fehler zu machen, ist zutiefst menschlich. Schauen wir uns Kinder beim Laufen lernen an. Wie oft fallen sie auf die Nase und geben trotzdem nicht auf? Sie versuchen es immer wieder, im Vertrauen, dass es besser wird. Bis jemand kommt und ihnen versucht beizubringen, wie es besser geht. Dann kommt Scham ins Spiel, und Zweifel und Schuld. Diese drei Emotionen sind Gift für uns und unser Verhalten und unsere Beziehungen. Scham, etwas nicht gut oder richtig gemacht zu haben, wird gleichgesetzt mit dem Gefühl, nicht richtig zu sein und nicht zu genügen. Schuldgefühle muss man von sich wegweisen, weil sie so unerträglich sind. Scham und Schuld lassen uns zweifeln. Und weil Selbstzweifel häufig dazu führen, sich klein zu fühlen, besteht das Risiko, andere klein machen zu müssen, um sich wieder mächtig zu fühlen. Das sind die oben beschriebenen Mechanismen von Machtmissbrauch.

So wird deutlich, dass zur Prävention von Gewalt der Fokus auf die Ursachen gelegt werden sollte, statt lediglich potenzielle Opfer zu ermächtigen, sich besser zu schützen. Was also lässt sich tun, um Machtmissbrauch langfristig und nachhaltig zu begegnen? Mein Vorschlag ist: Miteinander sprechen. Über die eigenen Gefühle und die Gefühle der anderen. Über unsere Fehler, unsere Wünsche, unsere Ängste. Zuhören. Uns Zeit nehmen, wenn jemand etwas auf dem Herzen hat. Und nicht gleich Lösungen anbieten, sondern dem anderen helfen, alle vorhandenen Ressourcen dafür zu entdecken, um selbst eine Lösung entwickeln zu können.

Die Autorin: Anja Jung arbeitet als Pädagogin, Schwimmlehrerin, systemische Beraterin, Therapeutin, Supervisorin,  Referentin, Fachberaterin und leitet einen Selbsthilfeverein. Ihre Schwerpunkte sind sexualisierte und digitale Gewalt, Inklusion, Elternarbeit und Präventionsarbeit sowie die Entwicklung von Schutzkonzepten. 

Source: Aktue