Grübeln: Anzeichen, dass deine Nachdenklichkeit gesund ist

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Wenn von Grübeln die Rede ist, dauert es meist nicht lange, bis wir auf toxische Gedankenkreise und Selbstsabotage zu sprechen kommen. Aber kann Nachdenklichkeit nicht etwas Positives sein? Unsere Autorin hat darüber nachgegrübelt. 

Erst letztes Wochenende antwortete meine Mutter wieder auf etwas, über das ich mit ihr sprach: “Mach dir darüber nicht so viele Gedanken.” Wenn ich für jedes Mal, das sie diesen Satz in meinem Leben zu mir sagte, einen Baum gepflanzt hätte, könnte ich jetzt in einem Wald spazieren gehen. 

Ich möchte nicht bestreiten, dass es so etwas wie “sich zu viele Gedanken machen” gibt. Ich kenne es auf jeden Fall von mir selbst, dass ich Dinge zerdenke und sie dann nicht mehr erleben kann, mich nicht mehr richtig darauf einlassen kann. Ich kenne es, dass ich mich mit Lappalien und unwichtigen Entscheidungen aufhalte und Probleme habe einzuschlafen, weil ich in einem Grübelstrudel festhänge. Aber wenn mir meine Mutter bei jedem zweiten Thema sagt, es lohne nicht, darüber nachzudenken, und wenn ich “Grübeln” googele, die erste Seite voll mit Tipps ist, wie ich es abstelle, drängt sich mir der Eindruck auf, dass wir etwas vergessen: Die positiven Aspekte der Nachdenklichkeit. Basierend auf meiner Erfahrung fallen mir dazu zum Beispiel folgende ein.

Merkmale, an denen du gesundes Grübeln erkennst

Es macht Spaß

Es hängt sicherlich davon ab, worüber wir nachdenken, aber ich erlebe oft genug, dass ich mich mit einigen Fragen gerne beschäftige. In dem Fall habe ich Spaß am Nachdenken, fühle mich dabei lebendig und wach. Manchmal gelange ich sogar zu Erkenntnissen und Aha-Erlebnissen, die mir Glücksmomente bescheren, vergleichbar mit dem unwahrscheinlichen Fund einer perfekten und trotzdem bezahlbaren Winterjacke oder der Neueröffnung eines äthiopischen Restaurants in der Nachbarschaft. 

Ob es konkrete Probleme sind, zum Beispiel was eine bestimmte Person in meinem Umfeld zurzeit durchlebt und warum sie tut, was sie tut, oder generelle Themen, an denen ich immer wieder weiterdenke – dass ich unter meinen Grübeleien leide, passiert mir sehr viel seltener, als dass sie mich positiv anregen.  

Es liefert Ideen

Gedankenlawinen zur Schlafenszeit empfinde ich zwar generell als schlecht getimt und oft sind es bei mir die kräftezehrenden Momente, in denen ich meine Nachdenklichkeit verfluchen möchte, doch es kam durchaus schon vor, dass mein übermüdetes, leidendes Gehirn Ideen produziert hat, auf die ich in wachem, frischem Zustand niemals gekommen wäre – und die sich als unfassbar gut und wertvoll entpuppten. Einmal als ich eigentlich schlafen wollte, bin ich zum Beispiel auf einen ganz neuen Ansatz zur Reise- und Urlaubsorganisation gestoßen, ein Thema, bei dem ich mich üblicherweise erst eine Weile im Kreis drehe, ehe ich es frustriert aufgebe und aufschiebe. 

Ob wir uns in die Fluten werfen oder unfreiwillig von einem Gedankenstrom mitgerissen werden, manchmal kann er uns an fremde Ufer treiben, von denen wir die Welt aus einer neuen Perspektive betrachten können. Und das, ohne dafür nass zu werden oder eine Reise organisieren zu müssen.

Es führt zu Entscheidungen

In den meisten Situationen und Phasen, in denen ich nicht auf Anhieb und intuitiv weiß, wie ich mich verhalten kann, finde ich im Prozess des Nachdenkens zumindest eine vorläufige Lösung und Entscheidung – und wenn die nur darin besteht, dass ich abwarten und erst einmal nichts tun werde. Oder darin, zu erkennen, dass ich an einer bestimmten Stelle ein Entscheidungsproblem habe. Sowohl angenehme wie unangenehme Nachdenklichkeit bringt mich in der Regel in eine Position, in der ich über meine nächsten Schritte und meine aktuellen Prioritäten entscheiden kann.  

Es fördert Verständnis und Entwicklung

Ein Kumpel erzählte mir neulich, dass er eine Person mit einem ungewöhnlichen Namen gefragt habe, wo der Name denn herkomme. Die Person habe ihn daraufhin irritiert angeschaut, ehe sie antwortete. Mein Kumpel kommentierte dieses Erlebnis, also vor allem die Irritation jener Person, mir gegenüber etwas genervt und leicht verzweifelt mit: “Was darf man heute eigentlich noch fragen?” Ich glaube, das Gefühl kennen viele Menschen. Und aus meiner Sicht steckt darin eine leise Kritik oder ein Hadern mit dem Nachdenken. Schließlich kommt der Wunsch zum Ausdruck: “Ich möchte einen Menschen einfach fragen können, was ich will, ohne vorher – oder spätestens hinterher – darüber nachdenken zu müssen, inwieweit ich ihn damit irritieren oder verletzen könnte.” 

Ich finde den Wunsch legitim und nachvollziehbar. Gefühlt besteht zurzeit bei jedem Satz, den wir sagen, die Gefahr, dass wir jemanden ausgrenzen, vorverurteilen, in eine falsche Schublade stecken, versehentlich gaslighten oder breadcrumben. Anstrengend, wieso sind wir alle so empfindlich und verkopft? Auf der anderen Seite bin ich aber der Meinung, dass es sich lohnt und uns weiterbringt, wenn wir uns diese Gedanken und Mühe machen, weil es uns in die Lage versetzt, andere Menschen und uns selbst unvoreingenommener zu sehen und zu verstehen. 

Sage ich zum Beispiel zu einer Person, dass sie etwas dramatisiert oder übertreibt, und sie schafft es, mir zu vermitteln, dass ich sie gerade gaslighte, kann ich dadurch erkennen, wie beschränkt meine Wahrnehmung auf meine Perspektive ist, die ich als so absolut und richtig empfinde, dass ich sie einer anderen Person versuche überzustülpen. Und dann kann ich mich ihrer Perspektive öffnen. Durch solche Erlebnisse und anschließende Denkprozesse kann ich lernen, dass es unterschiedliche Perspektiven gibt, die gleichzeitig richtig sein können. Und das empfinde ich als Bereicherung, denn es kann dann wieder mir helfen, beispielsweise dabei, mit Konflikten umzugehen. 

Vielleicht müssen wir uns nicht immer sofort angegriffen fühlen und aufregen, sobald sich eine Person noch nicht alle möglichen Gedanken gemacht hat, ehe sie etwas sagt (wobei sich viele Menschen zurecht angegriffen fühlen und aufregen, das ist, glaube ich, ebenfalls wichtig zu begreifen). Aber dass wir übereinander und über unseren Umgang miteinander nachdenken, empfinde ich weder als übertrieben noch als Energieverschwendung. 

Es stärkt die eigene Identität

Nachzudenken ist unsere Chance und Möglichkeit, eine eigene Meinung zu finden, die unserem Leben und Erfahrungsschatz entspricht. Es kann zwar anstrengend und unbequem sein und es mag uns manchmal auf Abwege führen – doch es macht uns zu uns, zu eigenständigen Individuen. Selbst wenn wir oft feststellen, dass andere Menschen das gleiche beschäftigt wie uns.

Es gibt immer mehr als eine Seite

Grübeln kann gewiss etwas Problematisches sein. Wenn es uns zum Beispiel davon abhält, zu handeln, Fehler zu machen, zu lernen und zu leben. Oder wenn wir nicht damit aufhören können und es ein Zwang ist. Sogar in diesen Fällen können wir es allerdings immerhin als Signal verstehen, macht es uns darauf aufmerksam, dass wir nicht weiter leben können, wie wir leben – ist es also nicht nur falsch. 

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es mich meist weniger weiterbringt, gegen Seiten von mir zu kämpfen, die mich stören, als diese Seiten als etwas zu betrachten, das mir nützen kann. Sofern ich lerne, damit umzugehen. Nicht, dass ich das immer schaffen würde. Aber es entspannt mich in der Regel schon, es nur zu probieren – jedenfalls im Vergleich zum Hadern und Kämpfen. 

Gerade nachzudenken und nachdenklich zu sein, gilt doch gemeinhin als eine sehr menschliche Eigenschaft, die uns von vielen anderen tollen Lebewesen unterscheidet. Wir können diese Eigenschaft doof finden und verfluchen. Doch was sagt das dann über unsere Einstellung zum Menschen – und zu uns selbst?

Source: Aktue