Holocaust-Gedenktag: "Antisemitismus geht uns alle an"

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Annette Seidel-Arpacı leitet die bayerische Recherche- und Informationsstelle RIAS, die antisemitische Vorfälle und Angriffe dokumentiert und Betroffene unterstützt. Ihre Arbeit ist gerade besonders dringlich.

Schon am Abend des 7. Oktober ahnte Annette Seidel-Arpacı, was auf sie und ihr Team zukommen würde. Die Nachrichten vom grausamen Terroranschlag der Hamas in Israel waren noch keine paar Stunden alt, da gingen bei RIAS Bayern (steht für Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus) die ersten Anrufe ein von besorgten und wütenden Juden und Jüdinnen. Weil sie bedroht wurden, beleidigt, angefeindet, im Netz, auf der Straße. “Mir war sofort klar: Es geht hier nicht nur um Israel. Der Hass richtet sich gegen Juden, ganz egal, wo sie leben.” Und egal, welchem politischen Lager sie selbst angehören. 

Annette Seidel-Arpaci
Annette Seidel-Arpacı, 56, hat selbst erlebt, was Ausgrenzung bedeutet. Sie kommt aus der Oberpfalz, hat im englischen Leeds am Center for Jewish Studies studiert und viele Jahre in Großbritannien gelebt. Sie leitet die bayerische Recherchestelle RIAS seit deren Gründung im Jahr 2019.
© Zuma Wire

Zwischen dem 7. Oktober und dem 9. November verzeichnete RIAS 148 antisemitische Vorfälle in Bayern, beinahe drei Mal so viele wie im Vergleichszeitraum des Vorjahres. 91 Prozent davon stehen in direktem Zusammenhang mit dem Terror-Massaker in Israel. 

“Ich bin entsetzt. Aber nicht überrascht”, sagt Annette Seidel-Arpacı.

Das Ziel: Judenfeindlichkeit dokumentieren

RIAS Bayern ist Teil eines Netzwerkes von zwölf Landesstellen. Den Anfang machte 2015 Berlin. 2019 kam Bayern als erstes Flächenland dazu, gefördert vom Bayerischen Sozialministerium. Ihr Ziel ist es, Judenfeindlichkeit zu dokumentieren. Also etwa Videos und Screenshots von Offline- und Online-Vorfällen, bei denen jüdische Menschen zur Zielscheibe von verbalen oder körperlichen Angriffen werden. Unabhängig davon, ob es sich dabei um Straftaten handelt. 

RIAS hilft Betroffenen, wenn sie eine Anzeige aufgeben wollen, und gibt den Kontakt zu Opferberatungsorganisationen weiter. Denn diese Unterstützung kann der Verein selbst gar nicht leisten. “Aber wenn uns jemand am Telefon seine Erfahrungen und Sorgen schildert, dann hören wir natürlich zu. Das können schon mal ein, zwei Stunden sein”, sagt Seidel-Arpacı. Eine große Aufgabe für die fünf Mitarbeiter:innen: “Wir arbeiten derzeit am Limit.”

Seidel-Arpacı hat selbst Ausgrenzung erfahren

Als Tochter einer Deutschen und eines türkischen Gastarbeiters kam Annette Seidel-Arpacı 1967 in einer Oberpfälzer Kleinstadt zur Welt. Ein bayerisches Kind mit den dunklen Haaren ihres Vaters, das in dem selbstverständlichen Gefühl aufwuchs, dazuzugehören. Bis sie in der Grundschulzeit schmerzlich erfuhr, dass das nicht alle so sahen. Etwa die Mutter einer Klassenkameradin, die ihrer Tochter verbot, mit “so einer” zu spielen. Eine Erfahrung, die ihr als Jugendliche half, sich in das Lebensgefühl deutscher Jüd:innen zu Beginn der Nazizeit einzufühlen. Viele konnten sich damals nicht vorstellen, dass die eigene Regierung ihre Auslöschung vorbereitete. Sie waren doch deutsche Staatsbürger:innen, so wie alle anderen! So unterschätzten sie die aufziehende Bedrohung.

Gleichsetzen kann man die Situation natürlich nicht, und ihre eigenen Erfahrungen seien nur einer von vielen Gründen für ihr Engagement, betont Seidel-Arpacı: “Antisemitismus geht alle an, egal welcher Herkunft. Denn die gefährlichen Denkmuster sind weltweit verbreitet.”

Antisemitismus schafft gefährliche Allianzen

Das könne man auch jetzt wieder bei der Diskussion um den Krieg in Nahost beobachten: “Israel wird nichts geglaubt, dem Staat und sogar den Überlebenden der Massaker wird reflexhaft Lüge und Propaganda unterstellt, egal, welche Beweise geliefert werden. Man sieht diese Haltung auch in Deutschland: das alte antisemitische Bild des listenreichen, des mächtigen, lügenhaften Juden.” 

Laut der aktuellen “Mitte-Studie” der Friedrich-Ebert-Stiftung, die schon Wochen vor dem 7. Oktober erstellt wurde, stimmten 5,7 Prozent der Befragten antisemitischen Aussagen zu – weit mehr als doppelt so viele wie 2021; 15,3 Prozent befinden sich in einem Graubereich. Eine gesellschaftliche Gesamtstimmung, in der ein stellvertretender bayerischer Ministerpräsident die Diskussion um ein antisemitisches Pamphlet aus seiner Jugend einfach aussitzen kann, ohne politisch Schaden zu nehmen. In der die in Teilen rechtsextreme AfD zweistellige Wahlergebnisse in Bayern und Hessen einfährt.

“Mir erzählen viele Juden und Jüdinnen in Bayern: Die Kreise, in denen ich mich wirklich sicher fühle und vorbehaltlos unterstützt, sind massiv geschrumpft”, sagt Seidel-Arpacı. “Die fehlende Empathie ist erschreckend.” Antisemitismus in Deutschland schafft unheilige Allianzen, so schätzt es Seidel-Arpacı ein: zwischen Menschen mit deutschen Wurzeln, die sich nie mit ihren eigenen, überlieferten Ressentiments auseinandergesetzt haben, und Zugewanderten, die mit antisemitischen Vorurteilen und Hass in ihren Herkunftsländern aufgewachsen sind. Dazu Verschwörungstheoretiker:innen aus dem Querdenkerlager: “Sie überlegen sich offensichtlich noch, wie sie sich aktuell positionieren, aber immer wieder wird aus diesen Kreisen Verständnis für palästinensischen Terror signalisiert.”

Die Forderung: Mehr Bildung und eine bessere Strafverfolgung

Was helfen könnte? “Zum einen eine massiv geänderte Bildungsarbeit, aber nicht nur mit Kindern. Zum anderen: Repression, entschlossene Strafverfolgung.” Immerhin, seitdem Bayern Antisemitismusbeauftragte für Polizei und Justiz habe, hätten die Behörden das Thema deutlich mehr auf dem Schirm. Was ihr auch Mut macht:Wenn jüngere Juden und Jüdinnen laut werden, sich wehren, mit der eigenen Organisation, aber auch gemeinsam mit nicht-jüdischen Unterstützer:innen.

Kleine Hoffnungsschimmer. Mehr gibt es derzeit nicht für Annette Seidel-Arpacı und ihre Mitstreiter:innen. Ihre Bilanz fällt nüchtern aus, doch resigniert ist sie nicht. “Alles, was wir erleben, zeigt: Es gibt keine Alternative zur Bekämpfung von Antisemitismus. Und damit auch nicht zu unserer Arbeit.”

Source: Aktue