Ist "healing" das neue "hot"?: Warum plötzlich so viele Menschen heilen möchten

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Heilen ist im Trend. Ob in den sozialen Medien oder im echten Leben, zurzeit entdecken immer mehr Menschen ihre Wunden. Was steckt dahinter? Und ist das gesund? Unsere Autorin hat eine Psychologin gefragt.

Eine Kollegin schickte mir neulich den Link zu einem Artikel über diesen derzeit wachsenden Trend: “Healing Girls Summer”. Ich hatte erzählt, dass ich gerade nach einem Unfall versuchte, Geduld zu bewahren, während mein Körper heilt. “Ich weiß, du meintest etwas anderes, aber das könnte trotzdem interessant sein”, schrieb sie – und lag richtig. Dass so viele Menschen ein Bedürfnis verspüren, zu heilen, finde ich bemerkenswert.

Ist “healing” das neue “hot”?

Der Trend “Healing Girls Summer” begann als Gegenbewegung zu dem sogenannten “Hot Girls Summer” und wurde bereits 2022 auf TikTok populär. Anstelle von Selfies in heißen Outfits und mit kühlen Drinks sammeln sich unter #healinggirlssummer mittlerweile auch auf anderen sozialen Medienplattformen tausende Beiträge. Texttafeln zum Beispiel, die dazu aufrufen, Selbstmitgefühl zu kultivieren. Es sind Reels von Frauen zu sehen, die über ihren Heilungsprozess sprechen. Und, naja, das eine oder andere heiße Outfit passt auch noch dazwischen. Zum Schlagwort “Healing” verzeichnet Instagram zurzeit rund 48 Millionen Posts. 

Ein reines Internetphänomen ist dieser Trend allerdings nicht: In vielen Orten in den USA und in einigen deutschen Städten gibt es so genannte “Healing Circles”, organisierte Gruppen und Verbunde von Menschen, die sich zusammenfinden, um ihre Heilungsprozesse voranzutreiben. “In sicheren Häfen abseits der alltäglichen Welt”, wie es auf einer Webseite heißt. Die Personen treffen sich, tauschen sich miteinander aus, meditieren, musizieren, hören sich Vorträge an. 

Die Leiden oder Wunden, mit denen sich Teilnehmende in ihren virtuellen oder realen Kreisen auseinandersetzen, können überaus vielfältig sein: Kopfschmerzen, Rückenprobleme, nie verarbeitete Kindheitserfahrungen, Liebeskummer, allgemeine Überforderung, Unfähigkeit, sich abzugrenzen, Ängste, unterdrückte Wut und vieles mehr. In vielen von uns hat sich offenbar so einiges angesammelt. Oder könnte vielleicht noch etwas anderes hinter dem Trend stecken?

“Dass sich so viele Menschen als geschädigt erleben wollen, ist besorgniserregend”

Die psychologische Psychotherapeutin Dr. Gitta Jacob sieht die sich ausbreitende Hinwendung zu Leiden und seelischen Narben kritisch. “Ich empfinde es als positiv, dass sich Menschen damit befassen, was ihnen guttut”, sagt sie. “Doch ich halte es für höchst besorgniserregend, dass sich plötzlich so viele Leute als geschädigt erleben wollen. Das ist einfach nicht der Fall: Es muss nicht jede Person von irgendetwas heilen. Heilen müssen die wenigsten. Die meisten Menschen in unserer Gesellschaft sind psychisch gesund. Dieser Healing-Trend suggeriert aber etwas anderes.” 

In der Wahrnehmung der Expertin interpretierten viele der Heilwilligen oft völlig normale, allerdings unangenehme Lebenserfahrungen als außerordentlich schwer oder gar traumatisch und redeten sich ein, davon Schaden genommen zu haben. Aber allein davon, dass man als Kind nicht ausreichend emotional bestätigt oder im Erwachsenenleben von seinem Partner betrogen worden sei, gehe man als Mensch nicht kaputt, sagt Jacob. So etwas gehöre zum Leben dazu und wir seien grundsätzlich in der Lage, damit fertig zu werden. 

Beobachten wir allerdings, dass Leute in unserer Umgebung wegen ähnlicher Erlebnisse die Notwendigkeit sehen, zu heilen, sei es nachvollziehbar, wenn wir dies auf uns übertrügen. Wir möchten schließlich dazugehören und wünschen uns Verbindung zu und Gemeinsamkeiten mit der Gemeinschaft, in der wir leben. Zudem falle es uns leicht, uns davon zu überzeugen, dass etwas in uns geschädigt sei: “Die Bereitschaft des menschlichen Gehirns, sich schlecht zu fühlen, ist überaus hoch”, sagt Jacob. Evolutionsbedingt schenken wir Bedrohungen und Missständen grundsätzlich mehr Aufmerksamkeit als all dem, was gut funktioniert. Wir sind übervorsichtig, neigen dazu, uns mehr Sorgen zu machen und mehr Angst zu haben als nötig. So kann aus dem bloßen Gedanken, wir könnten in irgendeiner Weise geschädigt sein und müssten heilen, schnell ein Gefühl werden. Ein Gefühl, das Schwere in unser Leben bringt.  

Ist der Wunsch nach Heilung eigentlich ein Bedürfnis nach Schonung?

Was den Trend für viele Menschen attraktiv machen könnte, sei die soziale Forderung, die in der Ansage “ich brauche Zeit zur Heilung” steckt, vermutet Jacob. “Wer von sich sagt, geschädigt zu sein, beansprucht damit das Recht, geschont zu werden”, so die Psychologin. “Die Person zieht sich aus der Verantwortung. Sie kennzeichnet sich als nicht voll belastbar und weist jede potenzielle Schuld von sich, wenn sie zum Beispiel gewisse Erwartungen nicht erfüllen kann. Schließlich ist ihr, laut ihrer eigenen Überzeugung, etwas Schwerwiegendes widerfahren.” Womöglich ist es also gar nicht das Bedürfnis nach Heilung, das zurzeit so viele Leute in sich entdecken – sondern der Wunsch nach Entlastung. Wenn dem so ist: Was hindert Menschen daran, ihn zuzulassen und zu äußern? Ist es vielleicht die Angst, den eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden? Oder von der Gesellschaft nicht anerkannt zu werden? Auf jeden Fall kann ich es nachvollziehen: Es ist leichter zu sagen, “ich bin krank” als “ich schaffe das nicht”. 

Es ist okay, okay zu sein

In der Healing-Bewegung steckt zweifellos eine gute und sinnvolle Idee: Auf sich acht zu geben, sich selbst verstehen zu wollen, auf die eigenen Bedürfnisse einzugehen – und sich darüber auszutauschen und mit anderen verbunden zu fühlen. Die Tatsache, dass viele Menschen glauben, sie dürften das nur im Rahmen eines Heilungsprozesses, ist wiederum bedenklich. Wieso sollten wir geschädigt sein müssen, um uns Zeit für uns zu nehmen? Oder um uns mit Leuten zu treffen und mit ihnen über unsere Probleme zu sprechen? Warum brauchen wir eine Entschuldigung dafür, dass wir nicht immer hundertprozentig funktionieren und nicht zu jeder Zeit Topleistungen bringen? 

Wir dürfen ruhig dazu stehen, dass wir Menschen sind. Meinetwegen können wir gerne alle zugeben, dass wir unser Leben anstrengend und schwer finden, obwohl es kein bisschen schwerer ist als die Leben der Anderen. Allerdings können wir auch öfter unseren Blick darauf richten, was wir alles bewältigen. Wie viele Konflikte wir schon ausgetragen, von wie viel Schmerz und Enttäuschung wir uns erholt haben. Und wie viele schöne Momente wir erlebt haben, mit unseren Freundinnen, unserer Familie oder allein.

Lassen wir uns nicht täuschen: Die meisten Menschen sind ihrem Leben gewachsen, so, wie sie sind, und müssen dazu nicht erst heilen. Und für jene, die gerne Teil einer Bewegung sind und bei einem Trend mitmachen möchten: Wie wäre es im nächsten Jahr mit einem “Living Girls Summer”?

Source: Aktue