Die Angst, etwas zu verpassen, wird auch FOMO (“Fear of missing out”) genannt. Ein Auswuchs der sozialen Medien? Nicht bei unserer Autorin, die auf einem ziemlich analogen Berg aus Zeitungen und Prospekten sitzt
Bevor bei uns zum Wochenende die neuen Zeitungen ins Haus flattern, sammle ich die der letzten Woche ein, um sie zum Papiercontainer zu bringen. Sie hatten nun die ganze Woche Zeit, gelesen zu werden und müssen Platz machen für die frische Ware. Ich lese immer noch bedrucktes Papier. Ich lese es nicht nur, ich liebe es.
Süchtig nach Lesestoff
Meine Liebe ist so groß, dass ich an keinem Prospekt vorbeigehen kann. Egal ob es Reiseangebote aus dem Supermarkt, Kino-Programme oder Flyer von Konzertveranstaltern sind. Das finde ich alles super interessant. Außerdem kaufe ich mir gern Zeitschriften. Eine davon nehme ich nur wegen ihrer wöchentlichen Veranstaltungstipps mit – und, um ehrlich zu sein, auch wegen ihrer Rätselseiten. Dazu kommt noch eine wuchtige Wochenzeitung, die mir vielleicht dabei helfen kann, endlich zu verstehen, was aktuell in der Welt los ist.
Ein gemütliches Frühstück am Wochenende kann ich mir also ohne einen Stapel Zeitungen nur schwer vorstellen. Allerdings weiß ich bei diesem Überangebot an Lesestoff oft gar nicht, wo ich anfangen soll. Bei den ersten Artikeln bin ich konzentriert. Aber bald fleddere ich nur noch so durch die Seiten, und nach der zweiten Tasse Kaffee wird das Frühstück abgeräumt. Zurück bleibt ein zerwühlter Haufen, der sich nach und nach über die Wohnung verteilt, sodass sich überall kleine Stapel bilden. Obwohl ich mich bemühe, nicht die Kontrolle über die Papiermassen zu verlieren. Und mir immer vornehme, alles, was schon auf den ersten Blick verzichtbar ist, wie zum Beispiel meine gesammelten Prospekte, sofort zu entsorgen.
Oft rutschen dann Briefe dazwischen. Besonders die ungeliebten, mit Rechnungen und Aufforderungen von der Krankenkasse. Wenn ich anfange, danach zu suchen, wird das Durcheinander noch größer. Und spätestens, wenn ich nach einer Woche beginne, alles Gedruckte einzusammeln, passiert Folgendes: Jeder Artikel, der eigentlich endgültig auf dem Weg ins Altpapier ist, erscheint auf einmal total spannend: Wie geht es dem Wolf in der Lüneburger Heide? Warum sind wir alle Verlierer? Wer hat den Buchpreis bekommen – und wer ist deswegen jetzt beleidigt? Von Seite zu Seite werde ich hektischer, denn jetzt erscheint jeder Ausschnitt wie eine Offenbarung: Eine Strategie gegen die steigenden Mieten? Bleiben Jeans oder kommt Cord in Mode? Und was passiert mit 3sat? Das muss ich alles unbedingt noch wissen!
“Das kann weg … oder?”
Vielleicht erklärt sich meine plötzliche Wissbegier auch dadurch, dass ich in der Ausmist-Phase nicht mehr gemütlich im Sitzen auf dem Sofa lese, sondern halb auf dem Küchenstuhl kauere, um die auf dem Tisch ausgebreitete Zeitung von oben mit einem letzten Scanner-Blick zu erfassen. Das ist unbequem, aber es erhöht die Aufmerksamkeit. Die ganze Körperhaltung zeigt: Hier wird mit der Zeit um die Wette gelesen. Unter Hochdruck! Alle Artikel, von denen ich fürchte, dass ich sie nicht mehr schaffe, bevor ich am Abend zum Papiercontainer gehe, werden rausgerissen und wandern auf einen neuen Stapel. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass sie dort noch mal meine Aufmerksamkeit erhaschen, dann wieder geringer ist. Denn täglich flattern ja neue Hefte und Zeitungen ins Haus, mit neuen Themen und frischen Meldungen.
Aber selbst diese Blätter bekommen jetzt ihre dritte Chance: Seit einiger Zeit besuche ich einen Keramikkurs. Die Tische dort müssen mit Zeitungen abgedeckt werden, bevor wir töpfern. Mein Vorrat an Altpapier ist hier sehr willkommen. Doch kaum habe ich die Unterlage auf dem Tisch ausgebreitet, sagt meine Nachbarin hektisch: “Moment, bevor du hier mit deiner Arbeit beginnst, muss ich noch schnell diesen Artikel lesen.”
Source: View original article
Suggested internal link: Prinz William bejubelt Champions-League-Sieg: Im Stadion bei seinem Herzensverein Aston Villa
Suggested internal link: Nach «GNTM»-Umstyling: Heidi Klum sortiert pinkes Kicher-Model aus
Suggested internal link: "GNTM": Pinker Felix von Heidi Klum umgestylt und aussortiert