Kolumne: "Die Fähigkeit, sich abzugrenzen, ist wie ein Muskel, der trainiert werden kann"

Aktuel

Das Leben ist oft ganz schön kompliziert. Zum Glück müssen wir da nicht allein durch. Diesmal: Psychologin Franca Cerutti über die Kunst, sich abzugrenzen.

Worum geht’s: Gestern kam meine Chefin zu mir und bat mich, ein neues Projekt zu übernehmen. Ich arbeite schon jetzt am Anschlag, aber ich will auch nicht als diejenige dastehen, die alles blockiert. Das Projekt ist wohl sehr wichtig, ich werde es schon auch noch schaffen. Also habe ich Ja gesagt, wie so oft – und ärgere mich.

Viele von uns kennen es nur zu gut: Unser Kopf nickt – aber der Magen zieht sich zeitgleich zusammen. Warum fällt es so schwer, Klartext zu reden und offen zu klären, wenn unsere Belastungsgrenze überschritten ist? Die Angst, als Blockiererin oder Egoistin abgestempelt zu werden, wenn wir Grenzen setzen, wurzelt tief in unserer Erziehung. Von Kindesbeinen an lernen wir, dass ein “Nein” negative Reaktionen hervorruft. Wir fühlen uns wie eine soziale Tabubrecherin.

“Nein” zu sagen sorgt für mehr Glaubwürdigkeit

Psychologische Studien zeigen aber interessanterweise, dass Mitarbeiter, die konstruktiv auf Missstände hinweisen und Probleme offen ansprechen, als ehrlicher und vertrauenswürdiger wahrgenommen werden. Gute Führungskräfte schätzen ein authentisches Feedback also mehr als eine zähneknirschende Zustimmung.

Auch wenn unser Gefühl etwas anderes sagt:Wer Nein sagt, zeigt Respekt und übernimmt Verantwortung. Und zwar für sich selbst, aber auch für die Kolleg:innen. Denn was passiert, wenn wir unter Aufbietung unserer letzten Reserven und insgeheim grollend noch ein weiteres Projekt schultern? Schlimmstenfalls liefern wir halbgare Arbeiten ab oder können Deadlines letztlich doch nicht einhalten. Dadurch erhöhen wir die Gefahr, Prozesse zu blockieren oder Erwartungen zu enttäuschen. Unsere übereilten Zusagen begünstigen also paradoxerweise genau das, was wir verhindern wollen. Und mit steigendem Stresspegel verringert sich nicht nur nachweislich unsere Effizienz – auch die Laune sinkt in den Keller. Auf Dauer kann unsere mentale und körperliche Gesundheit ernsthaften Schaden nehmen. Nein sagen ist essenziell, um nicht nur zu funktionieren, sondern wirklich gut zu leben.

Auch wenn’s wehtut – Dranbleiben zahlt sich aus!

Die Fähigkeit, sich abzugrenzen, ist wie ein Muskel, der trainiert werden kann. So ein Training ist zu Beginn schwer und kann zwicken. Vor allem, wenn unser Umfeld uns als extrem aufopferungsvoll kennt, wird unsere neue Selbstfürsorge zunächst für Irritation sorgen.

Ein Zitat, das ich sehr mag, bringt es auf den Punkt: “Die Person, die am negativsten auf ein Nein reagiert, ist oft die Person, für die wir das Nein am dringendsten brauchen.” Also: dranbleiben und das Neinsagen weiter trainieren – Konflikte und Irritationen gehören anfangs dazu.

Franca Cerutti ist Psychotherapeutin und podcastet unter dem Label “Psychologie to go!”. Dieses Motto nimmt sie sehr wörtlich – bald geht sie mit Mann und Sohn auf Weltreise.

Heftbox Brigitte Standard

Source: Aktue