Kränkung durch Übergewicht: "Nehmen Sie doch einfach ab"

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Kränkungen erleben Menschen mit Übergewicht im Alltag ständig – sogar dort, wo sie Hilfe suchen: bei der Ärztin oder beim Arzt. Selbst wenn’s um Zahnweh oder Haarausfall geht, sind die Kilos Thema. Welche Strategien helfen den Betroffenen?

Manchmal müssen ihre Patientinnen sogar weinen. Dr. Bianca Itariu, Internistin und Adipositas-Spezialistin aus Wien, ist es ein bisschen unangenehm, davon zu erzählen, denn schließlich tue sie doch nur, was für eine Ärztin normal sein sollte: Menschen ohne Vorurteile begegnen, sie ernst nehmen, auf ihre Fragen eingehen. Aber den meisten passiert das in ihrer Praxis eben das erste Mal, und entsprechend erleichtert und emotional reagieren sie. 

“Die Diskriminierung von Menschen mit Übergewicht und Adipositas im Gesundheitswesen ist in vielen Studien gut untersucht: 80 Prozent haben bereits entsprechende Erfahrungen gemacht, mit Pflegepersonal und Psycholog:innen, aber am häufigsten mit Ärzt:innen”, sagt Itariu. “Es ist zum Beispiel nachgewiesen, dass die sich bis zu 30 Prozent weniger Zeit nehmen, wenn jemand Adipositas hat.” Auch Diagnostik wie Bluttests oder bildgebende Verfahren werden bei Mehrgewichtigen seltener angeordnet. 

Eine “Zumutung”?

In den sozialen Medien berichten Frauen von Lungenentzündungen, Herzerkrankungen, Bandscheibenvorfällen, angeborenen Hüftdysplasien, die lange nicht als solche erkannt wurden; selbst bei Ohrenschmerzen, Zahnweh oder Haarausfall heißt es: Kein Wunder, dass es Ihnen schlecht geht. Sie sind zu dick und sollten abnehmen. Auf Instagram schreibt eine Frau, nur bei der Hautkrebsvorsorge spiele ihr Gewicht keine Rolle, “und doch wird auch dort das Gefühl vermittelt, es sei eine Zumutung, mich zu untersuchen”. 

Bianca Itariu hört so etwas immer wieder. Sie erzählt von einer Patientin, die bei sich eine verminderte Libido bemerkte und als Ursache die Wechseljahre vermutete. Der Gynäkologe aber habe der Frau gesagt: “Nehmen Sie einfach ab, dann wird Ihr Mann auch wieder interessiert sein.”

So einfach geht das leider nicht

Dr. Antonie Post, Ernährungswissenschaftlerin aus der Nähe von Stuttgart und Co-Autorin des Selbstcoachingprogramms “Gesundheit kennt kein Gewicht” (Südwest Verlag), bestätigt: “Die Wahrscheinlichkeit, dass dicke Menschen im Gesundheitswesen beschämt werden, ist sehr groß. Viele sind traumatisiert.” Dr. Bianca Itariu erinnert sich noch gut an das Augenrollen der Kolleginnen und Kollegen, als sie in ihrer Doktorarbeit begann, sich mit Adipositas zu beschäftigen: “Die Meinung war, was gäbe es denn da zu forschen. Die müssten sich einfach zusammenreißen.”

Dabei ist eindeutig belegt, dass für das Gewicht auch genetische Faktoren verantwortlich sind und vor allem, dass es nicht an fehlender Willenskraft liegt, wenn das Abnehmen scheitert. Es gibt eben kein “Nehmen Sie doch einfach ab”, was sich auch daran zeigt, dass der Satz zwar immer wieder fällt, aber praktisch nie erklärt wird, wie das funktionieren soll, oder Unterstützung angeboten wird. 

Gewichtsdiskriminierung – selbst aus dem engeren Umfeld

Trotzdem werden Menschen mit Übergewicht behandelt, als sähe man ihnen ihr Versagen an, und haben dies längst verinnerlicht. “Gewichtsdiskriminierung ist die einzige Diskriminierung, bei der die Betroffenen selbst glauben, sie hätten sie auch verdient”, sagt Antonie Post. Das erschwert auch den Einsatz von Adipositas-Medikamenten, wie ihn die Leitlinie empfiehlt. Bianca Itariu: “Wenn ich ein Sättigungshormon verschreibe, das dabei hilft abzunehmen, hören die Patient:innen oft aus ihrem Umfeld, etwa der Familie, das sei doch Schummeln. Das ist purer Zynismus! Bei einem Cholesterinsenker oder Blutdruckmittel sagt das niemand.”

Die Stigmatisierung gefährdet auch die Gesundheit: Zum einen, weil sie Dauerstress bedeutet, zum anderen, weil sich viele gar nicht mehr oder nur nach langem Zögern in eine Praxis trauen. “Diskriminierung – ob aufgrund des Geschlechts oder anderer Merkmale – führt außerdem eher dazu, dass Menschen ungesündere Verhaltensweisen in ihr Leben holen. Nur wer seinen Körper akzeptiert, betreibt auch Selbstfürsorge”, sagt Antonie Post. “Wir glauben, dass es hauptsächlich die Fettmasse am Bauch ist, die Menschen krank macht, dabei lässt sich das erhöhte Krankheitsrisiko mehrgewichtiger Menschen genauso gut durch Weight Cycling (Jo-Jo-Effekt, Anmerkung der Red.), die schlechtere medizinische Versorgung und chronischen Stress durch Stigmatisierung und Diskriminierung erklären.” 

Nicht zuletzt werden Medikamente, etwa bei einer Chemotherapie, häufig zu niedrig dosiert, weil ein hoher BMI in Studien zur Arzneimittelwirkung meist von vornherein ein Ausschlusskriterium ist. Bianca Itariu wünscht sich einen pragmatischen und differenzierten Umgang mit dem Thema. Die Ärztin hofft, dass sich das Gleichsetzen von dick und ungesund in der Medizin langsam wandelt, denn inzwischen erhält das Thema auch im Studium mehr Aufmerksamkeit.

Diese Strategien können helfen 

Und was können Betroffene tun? “Die wortgewandtesten, schlagfertigsten Menschen werden auf dem Behandlungsstuhl oft zu einem Häufchen Elend und können gar nichts mehr sagen”, sagt Antonie Post. Deswegen arbeitet sie in ihrer Beratung Erlebtes auf und trainiert im Rollenspiel neue Verhaltensweisen. “Ich rate immer zu einer Gegenfrage, die einfach nur spiegelt, was gerade gesagt wurde. Also: ‚Sie glauben, dass ich, wenn ich abnehme, weniger Zahnschmerzen habe. Können Sie mir erklären, wie das zusammenhängt?‘” Meist würden Ärztin oder Arzt allein dadurch merken, dass sie ihre Annahme eigentlich nicht begründen können. 

Zu erfahren, dass sich Menschen gar nicht mehr in die Praxis trauen, weil sie die Bedingungen als so feindlich empfinden, sorge zudem oft für ein Aha-Erlebnis. “Damit kann mal viele Ärztinnen und Ärzte abholen, die meisten haben den Beruf ja ergriffen, weil sie helfen wollen.”

Heftbox Brigitte Standard

Source: Aktue