Land-Grazien: "Wenn ihr das Gefühl habt, da stimmt irgendetwas nicht, dann hört verdammt noch mal darauf"

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Miriam Peters erzählt von ihrer Arbeit im bundesweit einzigen “inkognito”-Beratungsmobil für Frauen, die Gewalt erleben mussten.

Im März 2021 hat die studierte Sozialarbeiterin Miriam Peters eine Beratungsstelle für Frauen und Kinder gegründet, die von Gewalt betroffen sind. Das Angebot der “Land-Grazien” richtet sich an diejenigen, die auf dem Land wohnen und kaum Busanbindungen zur Verfügung haben. Gegenden, in denen häufig die Frauenhäuser voll und unterbesetzt sind. An Frauen, die durch die Überwachung ihres Partners nicht mal eben drei Stunden wegfahren können, um angeblich Milch zu kaufen, und sich doch eigentlich nur Hilfe suchen wollen. 

Über Instagram oder per Telefon kann Kontakt aufgenommen werden. Mögliche Treffen erfolgen im Beratungsmobil, das von außen wie ein Handwerkerbus aussieht. Einen festen Standort gibt es nicht – die “Land-Grazien” fahren inkognito zu vereinbarten Treffpunkten, sodass möglichst kein Täter oder sonst wer es mitbekommt. Betroffene erhalten die Unterstützung, die sie möchten – sei es nur ein Gespräch, der gemeinsame Gang zur Polizei, eine Fluchtbegleitung oder Hilfestellungen bei Anträgen. Eine wichtige Arbeit, die zeigt, wie viel präsenter das Thema ist, als viele annehmen … BRIGITTE hat mit Frau Peters gesprochen. 

BRIGITTE: Frau Peters, wie geht es Ihnen heute? 

Miriam Peters: Es geht so, tatsächlich. Wir hatten gestern eine Beratungsanfrage von einer Frau, die wir leider abweisen mussten. Da handelte es sich um Zwangsprostitution und Menschenhandel. Darauf sind wir einfach nicht spezialisiert. Aber es schmerzt einen schon, wenn man da sagen muss: ‘Es tut mir leid, Sie sind hier falsch’. 

Konnten Sie die Frau dann zumindest weitervermitteln? 

Ja, das schon. Wir haben ihr andere Kontaktdaten gegeben, wo sie sich melden kann. Aber es ist natürlich auch frustrierend, für uns selbst, und vor allem natürlich für die Frau. Dann traut sie sich endlich und dann kommt heraus: Wir sind nicht zuständig. 

Passiert das häufiger?

Nein, eigentlich nicht. Aber wir haben natürlich auch Grenzen, um die Fachlichkeit zu bewahren und die Professionalität. 

Wie viele arbeiten denn momentan bei den Land-Grazien?

Wir sind vier Frauen, aber alle haben keine volle Stelle. Wir haben eine duale Studentin, die jetzt neu angefangen hat. Wir haben mich als Sozialarbeiterin und Koordinationskraft. Und dann haben wir eine Verwaltungsfachkraft und eine 450-Euro-Kraft. Wir sind auf jeden Fall chronisch unterbesetzt.

Vor allem ja wahrscheinlich, weil die Nachfrage sehr hoch ist?

Sie ist riesig. Wir dachten es ist ein Corona-Ding, da haben wir ja angefangen. Aber es wurde nicht besser, weil dann kam der Krieg, die Inflation und Ängste. Was man jetzt auch wirklich merkt, sind die Folgen der Kontaktbeschränkungen. Kinder, die psychisch auffällig sind. Familien, die Schulden gemacht haben wegen Kurzarbeit oder weil das Geld generell nicht mehr gereicht hat. Man vielleicht sogar den Job verloren hat. Und all das sorgt natürlich für noch mehr Stressfaktoren zu Hause. Zurzeit ist es so, dass wir fünf bis sechs Erstkontakte pro Woche haben, das heißt Frauen, mit denen hatten wir vorher noch nie zu tun. 

Heftig. Und wie ist da die Altersspanne? 

Wir haben gerade unsere Quartalsstatistik gemacht, da waren 23 Prozent unter 18. Das sind junge Mädels, die oftmals den ersten Freund haben und schon sexuelle Übergriffe erleben. Und die älteste Frau war 82.

Wie nehmen die dann den Kontakt zu Ihnen auf? 

Oftmals melden sie sich anonym bei uns mit einem Account über Social Media. Das Alter und, wenn wir Glück haben, wo sie sich aufhalten, erfahren wir erst durch den Beziehungsaufbau, also dass wir miteinander schreiben. Häufig ist es anfangs auch wie ein Test, dass sie fragen, wer wir sind und ob man uns trauen kann, ob wir auch wirklich niemand anderem etwas erzählen. Aber wir können ja auch gar nichts erzählen, weil wir gar keine Daten haben. Und zum Beispiel die Omi hat einfach angerufen. 

Und wie geht es dann weiter?

Das ist ganz individuell. Meistens ist dann erstmal die Frage, erzähl mal, was los ist und was dein Wunsch ist. Dann sprechen wir miteinander und kommen zu einem Ergebnis, wie es weitergeht. Manchmal ist es auch einfach nur, dass man eine Bestätigung braucht für das, was man sowieso schon fühlt. Oder man möchte nur ein paar Ratschläge haben, wie man mit der Situation umgehen kann. Oder das Leid irgendwo lassen – das kann man bei uns sehr gut.

Ist es dabei denn schwierig, nicht sofort zu urteilen oder selbst etwas zu entscheiden?

Das wichtigste Prinzip ist bei uns tatsächlich das Selbstbestimmungsprinzip. Die Frau kann ganz genau entscheiden, wie ihr Leben aussehen soll. Und dann müssen wir das akzeptieren. Es gab eine Situation, da haben wir uns mit einer Frau getroffen, die sich informiert hat, welche finanziellen Sachen stehen ihr zu, wenn sie sich trennt? Wie sieht es aus mit dem Haus? Was würde generell auf sie zukommen? Und dann hat sie sich dafür entschieden, bei dem Mann zu bleiben. Mit der Argumentation, dass sie wegen eines Moments im Monat, in dem sie verprügelt wird, ihren sozialen Status nicht aufgeben möchte. Das ist auch eine Entscheidung, die wir auf professioneller Ebene nicht zu bewerten und hinzunehmen haben. 

Was ist denn die häufigste Art von Gewalt, die Sie miterleben? 

Meistens ist es psychische Gewalt, womit es anfängt. Eigentlich haben sie alle Frauen erlebt, wenn sie uns kontaktieren. Und dann kommt es darauf an, wie sehr das zu Hause eskaliert ist. Ob nun körperliche, sexualisierte oder ökonomische Gewalt noch dazugekommen sind. Oftmals ist es auch wie ein Kreislauf. Es kommt immer mal mehr dazu und dann ist auch wieder gar nichts. Dann ist die Vertragsphase und dann geht’s wieder los und es kommt vielleicht noch mehr dazu. 

Auf welche Warnzeichen sollte denn jede Frau achten? 

Erstens: Wenn er dein Haustier quält, das ist ein absolutes No-Go. Zweitens: Wenn er dir den Kontakt mit deiner Familie oder mit deinen engsten Freunden verbietet. Und drittens: Wenn er anfangen möchte, dich zu überwachen über Ortungsdienste. Er möchte nur auf dich aufpassen und gucken, dass es dir gut geht. Das muss man ja mittlerweile bei den iPhones auch schon ausstellen, wenn man es nicht möchte. Viele Frauen, die sich bei uns melden, werden wirklich 24/7 vom Partner überwacht. Und für die in eine Beratungsstelle zu gehen, wo die Adresse offen bekannt ist, kann dann schon Lebensgefahr bedeuten.

Wurde es für Sie selbst auch schon mal gefährlich, weil der Partner plötzlich doch aufgetaucht ist?

Ja, tatsächlich. Da waren wir nicht mit dem Beratungsmobil unterwegs, sondern haben eine Frau bei ihrer Flucht begleitet. Dann sind wir über die Autobahn, eine Kollegin, die Frau mit ihrem zweieinhalbjährigen Kind und ich. Wir wollten zum nächsten Frauenhaus. Und auf einmal war der Täter neben uns im Auto.

Was ist Ihnen dabei durch den Kopf gegangen?

Ich hatte Angst. Es war eine große Spannung im Auto, das war wirklich besonders. Wir sind zur nächsten Polizei gefahren und dann war er auf einmal weg. 

Was würden Sie sonst rückblickend sagen, war bisher das krasseste Erlebnis?

Wir haben uns einmal mit einer Frau im Beratungsmobil getroffen, mit der wir schon länger im Gespräch waren. Das war super. Also was heißt super? Wir haben uns gefreut, dass sie dem Treffen zugestimmt hat. Und dann war das Gespräch und sie wirkte, wenn man das so sagen kann, okay. Und dann ist sie aufgestanden und der Sitz war voller Blut. Ich habe ihr einen Tampon gegeben, von wegen das kann ja mal passieren. Aber dann hat sich herausgestellt, sie wurde gerade vergewaltigt und kam deshalb zu spät zum Treffen. Es war so schlimm, dass sie innere Blutung hatte. Wir haben sofort einen Krankenwagen gerufen, sie hat auch zugestimmt und ist ins Krankenhaus gekommen. 

Ich bin sprachlos … Gibt es denn etwas, was Sie als Prävention raten können?

Habt ein eigenes Bankkonto, auf das der Mann keinen Zugriff hat. Unserer Meinung nach ist die beste Gewaltprävention, die man überhaupt haben kann, die finanzielle Unabhängigkeit. Denn natürlich kann man jemanden schneller verlassen und ist unabhängiger und hat auch mehr Macht, weil Geld ist Macht, wenn man auch selbst etwas besitzt. Und: Hört auf euer Bauchgefühl. Wenn ihr das Gefühl habt, da stimmt irgendetwas nicht, dann hört verdammt noch mal darauf. Man wird ja oft so erzogen, dass man irgendwann nicht mehr darauf hört. Aber es ist so wichtig. Meistens ist dann nämlich auch irgendwas nicht koscher. Man kann vielleicht noch nicht ganz sagen was, aber irgendetwas stimmt nicht.

Und in dem Sonderfall, dass man Kinder hat: Worauf sollte man da besonders achten?

Nimm die Kinder ernst, egal was sie erzählen. Oftmals wird uns von den Kindern und Jugendlichen erzählt, dass sie niemand ernst nimmt und sie belächelt werden. So nach dem Motto: Ach, das ist dein erster Freund, da gibt es mal Schwierigkeiten. Kann doch mal passieren, dann suchst du dir einfach den Nächsten. Solche Floskeln werden dann gesagt, statt das Gesagte ernst zu nehmen und im besten Fall natürlich auch wertfrei zuzuhören und Unterstützung anzubieten. 

Und für Kinder von Betroffenen haben Sie auch noch ein extra Angebot, oder?

Genau, den Kids Club. Der ist zurzeit für die Kinder der Frauen, die bei uns Beratung suchen. Gerade sind es zwölf Kinder, die zum Beispiel ein TikTok-Projekt machen. Sie drehen Videos von Kindern für Kinder zum Thema Gewaltprävention. Was mache ich als Kind, wenn mir was passiert? Mit wem kann ich sprechen? Was sind die Möglichkeiten? Wie geht es mir besser? Das wird gut angenommen, das freut uns sehr. 

Infobox häusliche Gewalt

 

Source: Aktue