Laut Studie: Leute, tragt Lesebrille und Hörgerät, das hält jung!

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Klingt paradox? Stimmt aber: Frühzeitig mögliche Seh- und Hörschwächen auszugleichen, erhöht die Lebensqualität. Die jetzige, aber vor allem die im Alter, denn sie zählen zu den 14 vermeidbaren Risikofaktoren für Demenz. Warum scheuen wir entsprechende Hilfsgeräte dennoch so sehr?

Wie bitte? Ich höre wohl nicht richtig! Den Vorschlag, in der Lebensmitte eine Hörhilfe in Betracht zu ziehen, lehnen viele so vehement ab, als hätten die neuen Schwiegereltern zum Kennenlernen ein Treffen im Swingerclub angeregt – maximal unangebracht. Weniger heikel ist das Thema Lesebrille, die zumindest als modisches Accessoire gelesen werden kann. Dennoch: Als Gesundheitshelfer spielen sie gefühlt in der gleichen Liga wie der Rollator: Irrelevant in meinem Alter, dafür bin ich noch viel zu jung. Denkste, nicht unbedingt!

Dieses Eingeständnis fällt schwer

Seit einiger Zeit passiert bei Restaurant- oder Barbesuchen in meinem Freundeskreis (Ü50) folgendes: Sobald die Karte an den Tisch kommt, kramen geschätzt 75 Prozent der Runde ihre Lesebrille hervor. Ich wette, die anderen 25 Prozent tragen entweder bereits eine Gleitsichtbrille oder haben sich lasern lassen.

Machen wir uns nichts vor: Alterssichtigkeit trifft uns alle irgendwann, weil es eine natürliche Entwicklung im Alterungsprozess ist und es sich deshalb auch nicht um eine Fehlsichtigkeit handelt. Der Fachbegriff dafür, dass sich Form und Flexibilität der Augenlinse verändert und folglich das Scharfstellen im Nahbereich nicht mehr so gut funktioniert, lautet Presbyopie. Mit meist Mitte 40 setzt sie allerdings früher ein, als wir uns das eingestehen möchten. Woran ich das festmache? Noch vor wenigen Jahren ging bei gleicher Gelegenheit entweder die einzige verfügbare Sehhilfe reihum oder es musste sogar beim Servicepersonal eine erbeten werden.

Zwar wird das Entziffern von Buchstaben und Zahlen immer beschwerlicher bis unmöglich, aber bis wirklich eine Brille angepasst oder aus der normalen Brille eine Gletsichtbrille wird, muss der Leidensdruck richtig hoch sein. Vielleicht, wenn wir begreifen, dass der Nachbar von Gegenüber (dieser Spanner!), der ständig auf seinem Balkon herumlungert, in Wirklichkeit ein Sonnenschirm in Schutzhülle ist. Alles schon passiert. Ich glaube, wir haben es mit einem Fall von typisch menschlicher Verdrängung zu tun.

Noch stärker ist das Verleugnungspotential meiner Erfahrung nach beim Thema Hören. Wenn ich meinen Freund zum Beispiel auf das romantische Grillenzirpen in der Natur aufmerksam mache, entgegnet er zuverlässig: “Welches Zirpen?” Logisch, dass ich es unverschämt finde, wenn er seinerseits mir eine Hörschwäche unterstellt. Ich bin ja nicht schwerhörig, er spricht einfach zu undeutlich!

Um Demenz vorzubeugen, müssen wir rechtzeitig anfangen

Womit wir beim Trend-Thema Longevity wären. Damit ist ein Lebensstil gemeint, bei dem man alles dafür tut, möglichst alt zu werden, dabei aber auch gesund und fit zu bleiben – körperlich und geistig. Wird Prävention also endlich sexyer? Zeit wird’s. In Deutschland sind derzeit 1,8 Millionen Menschen an einer Demenz erkrankt, auch in meiner Familie gibt es Fälle. Bislang sind diese Erkrankungen nicht heilbar, aber es gibt eine Reihe von Faktoren, die vorbeugen helfen.

Logischerweise sollten wir damit beginnen, solange noch Zeit ist, also schon in jüngeren Jahren. “Für Menschen im mittleren Alter, die sich vor Demenz schützen wollen, ist die wichtigste Maßnahme, sich mit Hörgeräten zu versorgen, wenn das Hören schlechter wird”, betont Prof. Dr. Stefan Teipel, Leiter der Forschungsgruppe Klinische Demenzforschung, Deutsches Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE).

Für Menschen im mittleren Alter, die sich vor Demenz schützen wollen, ist die wichtigste Maßnahme, sich mit Hörgeräten zu versorgen, wenn das Hören schlechter wird.

Dr. Anne Pfitzer-Bilsing, Leiterin der Abteilung Wissenschaft von der gemeinnützigen Alzheimer Forschung Initiative, ergänzt: “Ein abnehmendes Sehvermögen kann ähnliche Folgen haben, wie Schwerhörigkeit.” Denn wenn jemand schlechter sieht oder hört, zieht sich die Person zunehmend aus dem gesellschaftlichen Leben zurück, trifft sich seltener mit Freund:innen oder der Familie. Diese soziale Isolation führt dazu, dass das Gehirn weniger stimuliert wird und deshalb die Leistungsfähigkeit sinkt. “Betroffene haben ein höheres Risiko, an Alzheimer zu erkranken. Außerdem kann soziale Isolation zu Depressionen führen, die ebenfalls zu den Demenz-Risikofaktoren zählen”, sagt die Expertin.

Über den Schatten springen hilft, geistig fit zu bleiben

Die Lancet-Kommission zur Prävention, Intervention und Pflege von Demenz hat kürzlich die Liste der Erkrankungsrisiken, die durch gesunden Lebensstil oder medizinische Versorgung vermeidbar wären, von 12 auf 14 erhöht. Schwerhörigkeit zählt schon länger dazu, jetzt ist auch die Sehschwäche (und der hohe Cholesterinspiegel) hinzugekommen. Auf diese Punkte kommt es, nach Stand der Wissenschaft heute, vor allem an:

  • Eingeschränkte Hörfähigkeit
  • Eingeschränkte Sehkraft
  • Erhöhter Cholesterinspiegel
  • Bluthochdruck
  • Depressionen
  • Kopfverletzungen
  • Bewegungsmangel
  • Diabetes Typ 2
  • Starkes Übergewicht
  • Übermäßiger Alkoholkonsum
  • Rauchen
  • Soziale Isolation
  • Luftverschmutzung
  • Geringe Bildung

Achtung: Es handelt sich dabei um Risikofaktoren, nicht um die gesicherten Ursachen einer Demenz. Das bedeutet, es ist nicht gesagt, dass ich erkranke, falls einige dieser Faktoren auf mich zutreffen und ich im Umkehrschluss verschont bleibe, wenn nicht. Wichtig ist vor allem, die definierten Risikofaktoren zu erkennen und dann entsprechend zu behandeln oder zu beheben.

Dennoch: Über diesen Zusammenhang hatte ich tatsächlich noch nie nachgedacht und frage mich nun: Könnte ich mich trotz Eitelkeit und Vorurteilen mit einer Hörhilfe anfreunden? Ich wäre doch blöd, wenn nicht. Eine Brille trage ich schließlich auch. Vielleicht machte ich jetzt wirklich einmal einen Hörtest. Meinen Freund schleppe ich mit. Letztlich ist doch alles Einstellungssache. Ich kann ein Hörgerät weiterhin als ultimatives Senioren-Gadget ablehnen. Oder es als eine clevere Investition in eine bessere Lebensqualität im Alter verstehen – und selbstbewusst tragen. So schwer finde ich die Entscheidung jetzt nicht. 
 

Source: Aktue