Medizinforschung: Phagen: Die Antibiotika-Alternative

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Jahrzehntelang vergessen, doch jetzt könnte eine spezielle Viren-Gruppe die Wende im Kampf gegen resistente Keime bringen: Phagen. Eine der führenden Forscherinnen ist Dr. Christine Rohde.

Hätte man Christine Rohde vor 20 Jahren nach der Phagen-Therapie gefragt, sie hätte mit dem Kopf geschüttelt. Dabei war sie damals schon Expertin für diese Viren-Gruppe, mit vollem Namen Bakteriophagen genannt; die Phagen-Sammlung am Leibniz-Institut DSMZ GmbH in Braunschweig hatte sie seit Ende der 1980er mit aufgebaut. Aber nicht für die medizinische Nutzung – die Biobank lieferte lange nur Material für Lehre und Forschung. 

“Natürlich hatte ich von Behandlungen mit Phagen in Osteuropa gehört, aber daran geglaubt, dass sie bei uns Realität werden, habe ich nicht”, sagt die Mikrobiologin, eine der führenden Forscherinnen auf diesem Gebiet in Deutschland. Zu ungewohnt sei dieser Heilansatz. “Auch die Notwendigkeit habe ich nicht gesehen, schließlich hatten wir doch Antibiotika.”

Doch mittlerweile wirken die immer seltener. Antibiotika-Resistenzen gelten als stille Pandemie, laut WHO tragen sie jährlich zu rund fünf Millionen Todesfällen bei, erst im Mai wurde die Liste der besonders gefährlichen multiresistenten Keime auf 15 erweitert. Und so besinnt sich die Medizin auf eine Therapie zurück, die sie jahrzehntelang vergessen hatte. Und die nicht schwer zu beschaffen ist, denn Phagen sind die am häufigsten vorkommende Daseinsform auf der Erde.

Was können Phagen, was Antibiotika nicht können?

Phagen können antibiotika-resistente, selbst multiresistente Bakterien killen. Und zwar so: Die Viren, die eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Mondlandefähre haben, docken an die Bakterienwand an und injizieren ihre Erbinformation in die Zelle, woraufhin diese auf massenhafte Virenproduktion umprogrammiert wird, bis sie platzt. 1919 wurden erstmals an Ruhr erkrankte Kinder in Paris mit einer Phagen-Lösung erfolgreich behandelt, doch das geriet in Vergessenheit, weil bereits zehn Jahre später mit der Entdeckung des Penicillins der Siegeszug der Antibiotika begann.

Abgesehen von einzelnen Phagen-Therapie-Spots, wie Anfang der 1980er für ein paar Jahre die Hamburger Endoklinik, hielt man nur im Osten an dieser Therapieform fest. Heute ist das 1935 gegründete Giorgi-Eliava-Institut in Tiflis, der Hauptstadt von Georgien, Hoffnungsort für Menschen aus aller Welt, die an hartnäckigen bakteriellen Infektionen leiden. 

Eine Übersichtsarbeit zur Phagen-Therapie nennt eine Heilungsrate von 80,8 Prozent, bei knapp elf Prozent der Fälle trat zumindest eine Besserung ein. Allerdings beruhen diese Zahlen auf Einzelfallberichten. “So ungeduldig die Öffentlichkeit auch ist, es muss erst mal wenigstens eine hochwertige klinische Studie beendet sein, um Sicherheit und Evidenz zu beweisen”, sagt Mikrobiologin Christine Rohde.

Diesbezüglich ein Meilenstein ist das Phage4Cure-Pojekt, bei dem Patientinnen und Patienten an der Berliner Charité eine Phagen-Mischung gegen einen der häufigsten Krankenhauskeime inhalieren. Christine Rohdes Arbeitsgruppe ist dabei für die Auswahl der verwendeten Phagen verantwortlich, denn die müssen genau zu den jeweiligen Bakterien passen – “Breitband-Phagen” gibt es nicht.

Wie findet man die richtigen Phagen?

Etwa alle zwei Monate macht sich Rohdes Team auf und nimmt Proben aus Teichen, die stark von Vögeln frequentiert werden, aus Kläranlagen oder Tierkot im Zoo: “Das richtet sich danach, gegen welche Bakterien wir Phagen suchen.” Besonders Erfolg versprechend bei Keimen, die den Menschen befallen, ist die Suche im Abwasser, vor allem dem von Kliniken – denn wo es viele krankmachende Bakterien gibt, finden sich auch ihre natürlichen Feinde.

Entscheidend ist aber auch, die neu gefundenen Keimkiller genauer zu untersuchen. “Wir können Phagen nur wirklich verstehen, wenn wir ihre Genome anschauen und interpretieren. So lässt sich ihr Verhalten zumindest teilweise vorhersagen.” Die Methodik dafür, vor allem was die Genanalyse angeht, hat sich in den letzten Jahren enorm weiterentwickelt.

Im Einzelfall die richtigen Phagen zu finden, also die, die auch genau die Keime angreifen, mit denen ein Mensch infiziert ist, ginge schnell, so die Expertin: “Ein sogenanntes Phagogramm läuft über Nacht und zeigt aus einer Zahl möglicher Phagen die passenden an. Allerdings muss der Bakterienstamm des Patienten hinsichtlich seiner Art bekannt sein; ins Blaue zu schießen, macht in der Phagen-Therapie keinen Sinn.”

Warum kommt die Therapiemethode bei uns nicht so richtig in Gang?

Antibiotika sind effektiv, aber vernichten leider auch nützliche Bakterien, Phagen dagegen sind Auftragsmörder, die außer ihrem Zielobjekt alles andere links liegen lassen. “Das ist ein gigantischer Vorteil”, sagt Christine Rohde. Und gleichzeitig ein großer Nachteil: Gerade weil Phagen sehr spezifisch wirken, braucht man sehr viele verschiedene – und jedes Phagen-Präparat müsste seine Wirkung und Sicherheit in aufwendigen klinischen Studien beweisen, um als Arzneimittel zugelassen zu werden. Auch die Herstellung ist an umfangreiche Vorgaben gebunden.

Bis jetzt wird die Therapie nur im Rahmen sogenannter individueller Heilversuche in kaum einer Handvoll Kliniken in Deutschland eingesetzt; an der Medizinischen Hochschule Hannover gibt es das Nationale Zentrum für Phagen-Therapie (mhh.de/nzpt). “Wir haben ein sehr strenges Arzneimittelrecht – und natürlich ist das gut so, aber in der Phagen-Therapie stellt uns das ein Bein”, so Rohde. In Belgien gibt es bereits Richtlinien, die die individuelle Herstellung von Phagen regeln. Die EU plant Ähnliches, aber noch gibt es keine entsprechende Regelung.

Können Phagen das Resistenzproblem lösen?

Nicht allein. Sie sind ein wichtiger Baustein, aber genauso brauchen wir dringend neue Antibiotika. Auch in Braunschweig wird intensiv daran geforscht. Ein Problem ist, dass die Mittel für Pharma-Unternehmen wenig attraktiv sind, eben weil sie lebensrettende Reserve sein und nicht massenhaft eingesetzt werden sollen.

Übrigens können auch Bakterien entstehen, die gegen Phagen resistent sind. Die sind dann aber häufig durch die Phagen geschwächt und nicht mehr krankmachend oder werden sogar wieder sensitiv gegenüber Antibiotika. Und, so die Expertin: “Resistenzen kann man auch begegnen mit einem Mix von Phagen, die sich in ihrer Wirkung ergänzen.”

Was können die Bakterienkiller noch?

Eine ganze Menge. Es gibt Projekte, wie sich medizinisches Material, etwa OP-Besteck oder Beatmungsschläuche, durch Phagen desinfizieren lässt, denn oft werden Krankenhauskeime darüber übertragen. Auch in der Herstellung von Lebensmitteln können Phagen sinnvoll sein, um Krankheiten zu verhindern. “Zum Beispiel gegen Listerien, die etwa in Weichkäse enthalten und für Schwangere hochgefährlich sind”, so Rohde. Ein weiterer Ansatz besteht darin, nicht die ganzen Phagen einzusetzen, sondern gezielt ihre Enzyme, Endolysine genannt, mit denen die Bakterienwand zerstört wird. Phagen sind außerdem nicht nur in der Human- sondern auch in der Tiermedizin wichtig.

Wann werde ich meine Blasenentzündung mit einem Phagen-Mittel aus der Apotheke behandeln können?

“Das steht in den Sternen”, sagt Christine Rohde. Dass es in Georgien seit Jahrzehnten frei verkäufliche Präparate gibt, sieht sie nicht als Vorbild. “Ich möchte deren Wirksamkeit nicht infrage stellen, aber sie sind nicht gut aufgereinigt. Wir brauchen auf jeden Fall einen Qualitätsstandard.” Selbstmedikation oder eine Therapie, ohne zu bestimmen, welcher Keim genau verantwortlich ist, sei insgesamt nicht zielführend: “Phagen-Therapie gehört in die Hand einer Ärztin oder eines Arztes.”

Heftbox Brigitte Standard

Source: Aktue