Multiple Sklerose: "Meine Träume zerbrachen, aber das Leben wurde trotzdem gut"

Aktuel

BRIGITTE.de-Leserin Caroline Mehr (51) hat Multiple Sklerose und sagt: Ohne meine Erkrankung hätte ich viele wunderbare Erfahrungen nicht gemacht.

MS, die Krankheit der 1000 Gesichter

Mit 26 Jahren erhielt ich die Diagnose Multiple Sklerose. Ich arbeitete als Physiotherapeutin in einem neurologischen Reha-Zentrum, und da ich medizinisch bewandert bin, saß der Schock erstmal tief.

MS ist eine Autoimmunerkrankung, die das Gehirn und das Rückenmark betrifft. Die Ausprägung kann sehr unterschiedlich sein, und der Verlauf ist nicht vorhersehbar. Deshalb nennt man sie auch die Krankheit der 1000 Gesichter. Ich hatte die schlimmsten Befürchtungen und sah mich innerhalb von wenigen Jahren im Rollstuhl sitzen.

Ich ging nach Asien – und vergaß die Diagnose

Ich fasste daher den Plan, bis zum Verlust meiner Mobilität so viel aus meinem Leben zu machen wie möglich. Ein paar Monate nach der Diagnose ging ich für einen Monat als Praktikantin in eine Kinderklinik nach Kambodscha. Die Arbeit dort fesselte mich. Nach der Rückkehr nach Deutschland fassten mein Freund und ich den Plan, in den Entwicklungsdienst zu gehen. Wir heirateten und flogen tatsächlich kurz nach meinem 30. Geburtstag mit einem Entwicklungshelfer-Vertrag in der Tasche nach Indonesien. Die Aufregung ließ mich meine Diagnose vergessen.

In Indonesien arbeitete ich als Physiotherapeutin in einer kleinen Behinderten-Organisation. Das Elend dort ließ mich wieder meine Krankheit vergessen. Die verhielt sich zu dieser Zeit auch relativ ruhig: keine Schübe, kaum Probleme. Dann wurde ich schwanger und am 26. Mai 2005 wurde meine Tochter in Denpasar auf Bali geboren. Ich war überglücklich.

Mit der Entbindung kamen die Schübe

Vier Wochen nach der Entbindung gingen dann die Schübe los. Erst hatte ich Sensibilitätsstörungen, das Gefühl verbrannter Beine. Dann wurden sie so kraftlos, dass ich nur noch schlecht gehen konnte. Meine Tochter in den Garten zu tragen, traute ich mich nicht.

Multiple Sklerose ist in Indonesien praktisch unbekannt. Auch das zur Behandlung notwendige Kortison war nicht verfügbar. Als meine Tochter acht Wochen alt war, musste ich allein nach Australien fliegen, um hochdosierte Kortison-Infusionen zu bekommen. Wegen der Reise und der Medikamente musste ich abstillen, das war nicht schön.

Wir brachten den Entwicklungsdienst mit Ach und Krach zu Ende. Zurück in Deutschland 2006 folgten dann weitere Schübe, ein gelähmter Arm, Koordinationsstörungen und viele Medikamente. Meinen Beruf musste ich stark einschränken. Die MS-Schübe bildeten sich zwar weitestgehend wieder zurück, aber ein Beruf, der einen körperlich fordert, ist kaum vereinbar mit so einer Diagnose.

Als meine Tochter 18 Monate alt war, fing ich ein Fernstudium an. Auch mit Behinderung wollte ich eine sichere finanzielle Perspektive. Nach meinem Studium konnte ich in Teilzeit eine tolle Bürostelle annehmen. Es lief eigentlich alles gut, die Krankheit hatte ich durch Medikamente im Griff, ich hatte ein tolles Mädchen und eine gute Ehe. 

Dann schlug die Depression zu

Dann überraschte mich die MS mit einem weiteren Symptom: Depressionen. Und zwar so schlimm, dass eine eigenständige Diagnose daraus wurde.

Ich lebte monatelang in einem grauen Pudding aus Verzweiflung und Unruhe, unfähig zu denken.

Ich konnte mit niemandem wirklich sprechen und schon der Gang zum Supermarkt war ein Horrortrip.

Ich war monatelang krank, bekam wieder Schübe, Lähmungserscheinungen, Schmerzen und auch Konzentrationsstörungen – ebenfalls ein Symptom der Multiplen Sklerose. Im Alter von 45 wurde ich zusätzlich zur Schwerbehinderung teilberentet. Der Medikamentenberg wuchs weiter, aber wenigstens halfen die Mittel.

Der Sport brachte mich auf einen guten Weg

In einer Spirale aus Depressionen, kognitiven Störungen, beruflichen Schwierigkeiten und Berentung begann ich zu joggen. Erst eine Minute, dann 500 Meter …

Motiviert durch eine Freundin, die Marathon läuft, nahm ich irgendwann an einem Fünf-Kilometer-Lauf teil, dann im Namen der MS-Gesellschaft an einem inklusiven Zehn-Kilometer-Lauf und schließlich an einem Halbmarathon – da war meine MS-Diagnose genau 20 Jahre her und depressiv war ich auch.

Ich bin sehr stolz auf das, was ich erreicht habe. Der Sport hat mir viel Kraft gegeben, und ich bin immens dankbar, dass ich Laufen gehen kann. Sollte das eines Tages nicht mehr möglich sein, werde ich andere Wege finden, um mich zu fordern und auf dem richtigen Weg zu halten.

Es geht weiter: Eure Stimme is… Leserkolumne (1198255)

Heute arbeite ich halbtags bei “Brot für die Welt” und betreue Entwicklungshelfer:innen. Nebenberuflich arbeite ich ehrenamtlich für die MS Gesellschaft (DMSG) als Beraterin im Programm „Betroffene beraten Betroffene“, was mir viel Freude bereitet. Ohne meine Erkrankung – so sehe ich es heute – hätte ich viele wunderbare Erfahrungen nicht gemacht. So schlimm es manchmal ist: Ich bin ich trotzdem sehr zufrieden mit dem, was ich habe. Mit 26 zerbrachen meine Träume an der Diagnose Multiple Sklerose, aber das Leben wurde wieder gut. Anders gut, aber gut.

Die Autorin: Caroline Mehr ist verheiratet und Mutter einer Tochter.

Source: Aktue