Paartherapeut verrät: Von dieser Entscheidung kann deine Partnerschaft nur profitieren

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In der Kolumne unseres Paartherapeuten Oskar Holzberg dreht sich alles um typische Liebesweisheiten und ihren Wahrheitsgehalt, er seziert Sprichwörter, Songtexte und berühmte Zitate. Diesmal: “Liebe beruht nicht auf Urteilen, sondern auf der Entscheidung, das Urteilen beiseitezulassen” – Claire Dederer, US-amerikanische Autorin.

Kurz gesagt: Entscheiden, das ist entscheidend!

Jetzt mal ausführlich: Wenn das Paar M. im Therapieraum miteinander spricht, dann ist Herr M. ausgesprochen verständnisvoll. Er sagt Dinge wie: “Ich verstehe, dass sie ihren Rückzug braucht.” Oder: “Ich nehme mich dann zurück, wenn sie ihre Kopfschmerzen hat.” Es bereitet einige Mühe, ihn dazu zu bewegen, nicht ständig über seine Frau zu sprechen, so als sei sie gar nicht anwesend, sondern direkt zu ihr zu sprechen.

Dieses über den anderen sprechen ist schon ein Hinweis, dass Herr M. durchaus einfühlsam sein kann, aber im Grunde ständig urteilt. Denn wenn wir urteilen, dann ja immer über jemanden. “So was würde ich niemals tun!”, sagt Herr M. dann über seine Frau, die ihn im Taxi lautstark mit seinem Auftritt auf der Party konfrontierte. Und es ist klar, dass er ihr Verhalten als falsch beurteilt. Oder er sagt: “Ich kann nicht verstehen, dass sie sich so aufregt!” – und meint damit, dass ihr Verhalten völlig unangemessen sei. Und wenn er denkt, dass sich seine Frau anstellt und ein Humordefizit hat, dann verurteilt er sie auf seine indirekte Art: “Also, Barbara reagiert sehr empfindlich auf Scherze.”

Wenn wir die rosarote Brille absetzen

Im Urteilen erheben wir uns über die andere Person. Wir maßen uns ein Urteil an. Was natürlich in Liebesbeziehungen sofort ein doppeltes Problem kreiert. Zum einen wollen wir uns gleichberechtigt fühlen. Und uns nicht wie Kinder oder Schüler:innen der Beurteilung unseres Partners ausgesetzt fühlen. Und natürlich möchten wir uns wertgeschätzt und geliebt fühlen und so angenommen werden, wie wir sind. Doch bedingungslos und ohne jede Einschränkung akzeptiert zu werden, ist ein romantischer Wunsch aus dem La-La-Land der Fantasie. Wir urteilen ständig. Dies finden wir schön, das lehnen wir ab, jenes ist uns zu doof und das andere gefällt uns. So schauen wir auch auf unsere Mitmenschen. Und auch auf unseren Lieblingsmenschen. Und seitdem die Daumen-hoch-Daumen-runter-mag-ich-mag-ich-nicht-Seuche im Internet ausgebrochen ist, werden wir auch noch andauernd darin trainiert zu urteilen. Unsere Urteile sind so präsent, dass wir sie mit einem Trick ausschalten, um überhaupt Partner:innen zu finden und uns auf sie einzulassen. Wir umgehen unseren urteilenden Verstand, indem wir uns verlieben. Wir folgen nur unseren leidenschaftlichen Gefühlen, und unser urteilsfähiger prä-frontaler Kortex ist weitgehend abgemeldet. Nach der romantisch verklärten rosaroten Barbie-Phase schaltet er sich wieder ein. Wir beginnen an unseren Partner:innen Seiten zu entdecken, die wir befremdlich finden. Dann Reaktionen, die wir für unangemessen halten. Und schließlich Verhalten, das wir als unakzeptabel ablehnen. Wir urteilen zunächst, dann beurteilen wir und schließlich verurteilen wir.

Doch wenn wir gut sind, wenn wir unserer Liebe eine Chance geben, dann entscheiden wir uns immer wieder gegen unsere Urteile. Wir machen uns die Maßstäbe klar, die wir bei unseren Urteilen anlegen und stellen sie infrage. Denn unsere Urteile sind auch in der Liebe nur unsere beschränkte Sicht der Welt. Und unreflektiert zu urteilen ist – auch gesellschaftlich – destruktiv. Gegenüber unseren Partner:innen können wir uns an unsere urteilsfreie Zeit erinnern und ganz bewusst wieder liebevoll annehmend auf sie schauen. Wir können unsere Urteile nicht verhindern, aber wir können und müssen uns bewusst entscheiden, sie immer wieder beiseitezulassen.

Neu in den Partner verlieben: Oskar Holzberg
Oskar Holzberg, 67, berät seit über 20 Jahren in seiner Hamburger Praxis Paare und ist seit über 30 Jahren verheiratet. Sein aktuelles Buch heißt “Neue Schlüsselsätze der Liebe” (240 S., 11 Euro, DuMont).
© Ilona Habben

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Source: Aktue