Physio via Instagram: So funktioniert Krankengymnastik über Instagram

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Kann das funktionieren: Krankengymnastik über Instagram? Physiotherapeutin Vanessa Lämmle erklärt, worauf wir achten müssen, wenn wir unsere Schmerzen selber behandeln. 

Brigitte: Physiotherapie für zu Hause ist gerade total angesagt. Allein Ihrem Insta-Account @muskelundverstand folgen mehr als 180 000 Leute. Wie kommt’s?

Vanessa Lämmle: Viele Menschen haben nur sehr wenig Zeit und schauen, welche Übungen sie einfach und mit wenig Aufwand zu Hause machen können. Social Media hat da inzwischen ein sehr großes Angebot. In vielen Krankengymnastik-Praxen gibt es heutzutage Wartezeiten von mehreren Wochen. Wenn man akute Schmerzen hat, möchten viele nicht so lange warten und legen lieber selbst los.

Ist es nicht riskant, wenn ich mich quasi selbst behandle?

Ich schreibe zu meinen Übungen immer dazu, dass bei akuten Beschwerden vorher ein Arzt oder eine Ärztin draufschauen sollte. Mein Fokus liegt aber eher auf typischen Wehwehchen, die im Alltag nerven: Verspannungen an Rücken, Schultern oder Nacken zum Beispiel, wo einfache Übungen schnell für Linderung sorgen. Da kann man eigentlich nicht viel falsch machen. Wenn sich aber länger nichts tut oder während der Bewegung Schmerzen auftreten, sich ein Gelenk entzündet und warm wird, empfehle ich: unbedingt abklären lassen.

Was sind denn die größten Pain Points Ihrer Follower:innen?

Das Thema unterer Rücken ist eigentlich immer präsent – da werde ich oft nach Tipps gegen die Schmerzen gefragt.

Liegt das daran, dass immer mehr Menschen gekrümmt durch die Welt gehen, mit Handybuckel, Hohlkreuz und Co.?

Ja, das Hauptproblem ist ganz klar unsere moderne Arbeitswelt. Wir sitzen zu lange – 9,2 Stunden am Tag. Und im Homeoffice bewegen sich viele noch weniger als im Büro. Zum Sitzen kommt das Smartphone on top, auch da sieht man diese typische vorgebeugte Haltung: den Blick nach unten gerichtet, vorne rund, die Brustmuskulatur und der Hüftbeuger sind ständig in dieser angenäherten Position. Diese einseitige Haltung ist das Hauptproblem – es bedeutet, dass im Alltag meist immer wieder dieselben Muckis aktiv sind, während andere so gut wie nie zum Einsatz kommen.

 Viele nehmen diese Haltung dann mit in ihren Alltag und ihren Sport. Das macht die Beschwerden oft noch schlimmer. Unser Körper kompensiert zwar viel, aber irgendwann ist diese Kapazität ausgeschöpft und er beschwert sich – meist in Form von Schmerzen.

Ich erschrecke manchmal, wenn ich mich dabei ertappe, schon wieder mit rundem Rücken dazusitzen …

Es ist nicht schlimm, zwischendurch rund zu sitzen. Das Problem ist, wenn man es neun Stunden am Tag macht.

Was kann man dagegen tun?

Immer wieder kleine Bewegungssnacks in den Alltag einbauen. Sich aufrichten, die Rückenmuskulatur stärken und insgesamt aktiver werden. Es muss nicht eine Stunde Sport am Abend sein, auch wenn das natürlich super ist. Es hilft schon, über den Tag möglichst oft die Position zu wechseln. Unser Körper mag die Abwechslung. Optimal ist es, vorbeugend Übungen zu machen, damit es gar nicht erst zu Beschwerden kommt – auch wenn das niemand gerne hören mag.

Wie kann ich mir solche Bewegungssnacks vorstellen?

Man ändert über den Tag immer wieder die Haltung: stellt sich zwischendurch mal hin, telefoniert im Gehen, hebt die Arme, setzt sich andersherum auf den Stuhl. Ich lege mich zum Beispiel gerne vor meinem Laptop auf den Bauch, um den unteren Rücken zu strecken. Und: viel bewegen im Alltag, spazieren gehen, Hausarbeit, mit dem Rad fahren.

Das klingt alles sehr unbequem. Wie schaffe ich es trotzdem, meine Komfortzone zu verlassen?

Kurze Einheiten kommen bei meinen Follower:innen gut an. Ich poste regelmäßig Übungssequenzen, die nur ein paar Minuten dauern, und die man ganz einfach zwischendurch machen kann, ohne sich umziehen oder duschen zu müssen. Damit kann man gut starten. Mein Tipp: ausprobieren, was einem sportlich Spaß macht, damit man dabeibleibt. Es gibt so viele tolle Möglichkeiten, sich zu bewegen. Aber jede:r mag etwas anderes.

Ist Dehnen in der neuen Homeoffice-Welt also das neue Laufen?

Nur Dehnen ist nicht die Lösung. Entscheidend ist es, einen Ausgleich zum Alltag zu schaffen – und das ist individuell unterschiedlich. Jemand, der den ganzen Tag steht, braucht etwas anderes als jemand, der im Büro arbeitet. Wenn ich den ganzen Tag sitze, hat der Rücken nichts zu tun. Dehne ich dann nur die vorderen Strukturen, ist das keine langfristige Lösung. Besser ist es, den Rücken zu kräftigen, dann dehne ich vorne automatisch, und durch die Kräftigung richte ich mich auf. Deswegen finde ich eine Kombi aus mobilisierenden und kräftigenden Übungen optimal.

Ganz schön kompliziert. Kriege ich das alleine hin?

Erst mal vorweg: Keine Angst vor falscher Bewegung, vor allem wenn man nicht mit Gewichten trainiert. Jede Bewegung ist besser als keine Bewegung! Was man aber tun kann, ist, seine Haltung zu korrigieren. Vor dem Spiegel schauen: Fallen die Knie nach innen? Habe ich ein stark ausgeprägtes Hohlkreuz? Wie stehe ich, wenn ich normal dastehe? Sind die Schultern annähernd auf einer Höhe? Und dann: die Wirbelsäule aufrichten, als würde einen jemand am Scheitelpunkt nach oben ziehen. Das Kinn leicht ran-, die Schulterblätter zurück- und den Bauchnabel sanft in Richtung Wirbelsäule ziehen.

Eine falsche Bewegung gibt es also nicht?

Das darf man ja so nicht sagen. Man sollte auf den Körper hören, langsam reingehen und nachspüren, im Optimalfall eine gute Anleitung haben und wenn möglich vor einem Spiegel trainieren. Und bei Schmerzen aufhören. Wenn man mit einer Fehlhaltung wie zum Beispiel X-Beinen joggt, rate ich, vorher eine Ärztin oder einen Physio draufschauen zu lassen. Da ist es sinnvoll, die Beinachsen zu stabilisieren.

Viele Leute bekommen die Diagnose Arthrose – und bewegen sich dann lieber gar nicht mehr.

Eine Arthrose hat ganz verschiedene Symptome und muss nicht unbedingt wehtun. Die Frage ist, ob sie Beschwerden macht oder nicht. Vielen Patient:innen geht es schon allein dadurch schlechter, dass sie eine Diagnose haben.

Das ist ja auch ein Schock!

Stimmt, aber man kann viel tun, um schmerzfrei zu werden. Das A und O ist, dass man sich bewegt, die Gelenke unterstützt, die Muskulatur aufbaut und Spannungszustände ausgleicht, sodass die Muskeln wieder harmonisch zusammenarbeiten. Egal, um welche Erkrankungen am Bewegungsapparat es geht: Ich beobachte bei vielen Betroffenen, dass sie Angst haben, sich zu bewegen – obwohl genau das richtig wäre. Da ist Social Media übrigens oft nicht hilfreich mit reißerischen Headlines wie: “Mach das bloß nicht bei Arthrose!” oder “Wenn du diese Übung machst, geht dein Rücken kaputt.” Das schürt Ängste. Im Netz tummeln sich viele selbsternannte Expert:innen, das finde ich echt gefährlich.

Wie erkenne ich denn Influencer:innen, die Ahnung haben?

Ich empfehle, den beruflichen Background zu checken – was manchmal gar nicht so einfach ist, da sich jeder in der Social-Media-Welt ja selbst betiteln kann, wie er möchte. Aber man merkt früher oder später schon, ob jemand vom Fach ist oder eben nicht. Die Art des Inhalts, die Beschreibungen oder das Auftreten können hier schon einiges verraten. Auch unrealistische Versprechen wie “Mach diese eine Übung und all deine Beschwerden sind weg” sind eher unseriös.

Wie viel Anteil hat der Stress daran, dass wir häufig verspannt sind?

Wenn man ständig unter Dauerspannung steht, wirkt sich das auf die Muskulatur, den Schlaf, das Immunsystem aus. Gerade bei Kopfschmerzen und Nackenverspannungen ist Stress oft mitverantwortlich. Bewegung schafft hier einen Ausgleich – einigen hilft Yoga besser, andere powern sich lieber aus. Mein Tipp: spüren, ob die intensive Einheit guttut oder den Körper zusätzlich stresst.

Vanessas Top-3-Übungen für eine gute Haltung

Im Vierfüßlerstand im Wechsel den rechten Arm und das linke Bein diagonal strecken und Ellenbogen und Knie unter dem Körper zusammenbringen und dabei den Rücken runden.10 Wiederholungen pro Seite

Physio via Instagram: Frau führt Sportübung aus
© Vanessa Lämmle

In Rückenlage die Füße vor das Gesäß stellen, die Arme liegen entspannt neben dem Körper. Nun das Gesäß einatmend langsam anheben und ausatmend wieder absenken. 10 Wiederholungen

Physio via Instagram: Frau führt Sportübung aus
© Vanessa Lämmle

Im aufrechten Sitz die Hände auf den Hinterkopf legen, die Ellbogen mit der Einatmung weit nach hinten ziehen. Den gesamten Rücken und das Kinn in Richtung Decke strecken und die Schulterblätter zur Wirbelsäule ziehen. Ausatmend die Spannung lösen, in eine neutrale Position kommen. 10 Wiederholungen

Physio via Instagram: Frau führt Sportübung aus
© Vanessa Lämmle

Vanessa Lämmle, 34, ist Physiotherapeutin und Influencerin auf Instagram. Unter @muskelund-verstand postet sie täglich kurze Übungssequenzen. Ihr Buch “Physio@Home” erscheint im Herbig Verlag (160 Seiten, 22 Euro).

Phsyio via Instagram: Buchcover "Physio @ Home"

Heftbox Brigitte Standard

 

Source: Aktue