Prof. Dr. Fatma Çelik: "Die von Ihnen geschilderten Fälle sind keine Einzelfälle"

Aktuel

Prof. Dr. Fatma Çelik ist Psychologin und forscht unter anderem zu Gewalt. Sie wird die Erfahrungsberichte des Projektes #wasmachtmacht einordnen – möchte vorab jedoch ein persönliches Wort an unsere Leser:innen richten.

Infobox Expertin

“Die Erfahrungsberichte regen zum Nachdenken über unsere gesellschaftliche Verantwortung an”

“Sehr geehrte Leser:innen,

die nachfolgenden Erfahrungsberichte machen betroffen, regen aber auch zum Nachdenken über unsere gesellschaftliche Verantwortung an und können somit Veränderungsprozesse anstoßen, die es zur effektiven Prävention braucht.

Fatma Çelik
Prof. Dr. Fatma Çelik ist Diplom-Psychologin, Forschende zu Psychologie und (sexueller) Gewalt über die Lebensspanne und Lehrende an der Hochschule Düsseldorf.
© Thomas Neitsch

Heute möchte ich in drei Rollen zu Ihnen sprechen: als Forschende bzw. Lehrende zu (sexualisierter) Gewalt, als systemische Psychotherapeutin und als Frau. Die Forschende/Lehrende muss leider feststellen, dass die teilweise von Ihnen geschilderten Fälle keine Einzelfälle sind. So zeigte eine europaweite Umfrage von 2014, dass jede dritte Frau in Deutschland mindestens eine Situation in ihrem Leben berichtet, in welcher sie körperliche oder sexualisierte Gewalt erlebt hat (Quelle: Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA)). Bei dieser Studie wurden nur sogenannte “Hands-on”-Taten, also Taten mit Körperkontakt erfasst, d.h. verbale Belästigungen sind in dieser Statistik noch nicht enthalten. Im europäischen Vergleich berichteten in derselben Studie 43 Prozent der befragten Frauen, psychische Gewalt im partnerschaftlichen Kontext erlebt zu haben. In diesen Statistiken sind Fälle von Menschen unter 15 Jahren nicht mit eingeschlossen, wie beispielsweise sexualisierte Gewalt im Kindesalter. Wichtig ist an dieser Stelle anzumerken: Auch Jungen und Männer oder auch nonbinäre Personen sind betroffen von Gewalt und dürfen nicht übersehen werden, wenn es um gesellschaftliche Verantwortung für Prävention und Intervention geht. 

“Es braucht Wege, die Hilfesuche zu vereinfachen, um Machtmissbrauch vorzubeugen”

Die systemische Psychotherapeutin sieht in einem Teil der Berichte das dysfunktionale System, z.B. Machtstrukturen, aber auch Werte- und Normensysteme, die die beschriebenen Fälle begünstigen. Viele Betroffene leiden langfristig unter den Folgen der Erfahrungen, je nach Schweregrad der Tat, Dauer und Häufigkeit der Übergriffe, der Beziehung zum/zur Täter:in und schließlich auch in Abhängigkeit von den Reaktionen des unmittelbaren Umfelds. Leider ist das Wissen zu (sexualisierter) Gewalt oder auch zu Machtmissbrauch in anderen Kontexten in der Bevölkerung immer noch stark von Fehlvorstellungen geprägt, was für Betroffene die Hilfesuche enorm erschwert. So müssen sie bei der Hilfesuche häufig viele Hürden bewältigen, oft begleitet von Scham- und Schuldgefühlen. Systemisch betrachtet braucht es Wege, die Hilfesuche zu vereinfachen, Hürden abzubauen und Konzepte zu entwickeln, um Machtmissbrauch gesellschaftlich vorzubeugen. 

Schließlich spreche ich als Frau zu Ihnen, die Ihnen danken möchte, dass Sie so vielen Betroffenen durch Ihren mutigen Beitrag gegebenenfalls Worte für das geben, was diese selbst erlebt haben, oder aktuell erleben, aber über das sie (noch) nicht sprechen können.”

Source: Aktue