Projekt "Perspectives": Yasemin Said unterstützt die Bewohner der Plattenbausiedlung Leipzig-Grünau

Aktuel

Was sie macht: Menschen stärken

Wo: in den Plattenbauten von Leipzig-Grünau

Und wie: fühlen und fragen

Wie fühlt sich ein Ort an? Für Yasemin Said steht die Antwort darauf wie ein Ausrufezeichen über ihrer Arbeit. “Es ist mir ein Bedürfnis zu zeigen, dass ein und derselbe Ort von unterschiedlichen Menschen vollkommen unterschiedlich wahrgenommen werden kann.” 

Wie sicher ist eine Polizeiwache? Wie hilfreich ist ein Amt? Wie gefährlich ist ein Stadtviertel? “Es ist frustrierend, wenn nicht gesehen wird, dass nicht-weiße Personen andere Erfahrungen an vermeintlich sicheren Orten machen als weiße.” Said will diese Perspektiven erweitern. Im Leipziger Stadtteil Grünau hat die 30-Jährige deshalb das Projekt “Perspectives” ins Leben gerufen.

Leipzig-Grünau, gegründet in den 1970er-Jahren, ist eine der größten Plattenbausiedlungen Sachsens. Die Mieten hier sind günstig, viele der 48 000 Bewohner:innen sind daher älter und ärmer als in anderen Vierteln. Ein Drittel hat Migrationshintergrund. Kurz nach der Wende galt Grünau als Brennpunkt rechter Gewalt, bis heute gibt es Übergriffe. Erst 2022 wurde ein Geflüchtetenheim, das bereits 1991 von Neonazis überfallen worden war, erneut mit Brandsätzen beworfen.

Wie sich Grünau für nicht-weiße Menschen anfühlt, weiß Said als Tochter eines afghanischen Vaters genau, auch wenn sie hier nicht lebt: Ihre Oma Helga wohnt in einem der Plattenbauten. Bis heute besucht Said sie oft. In den letzten Jahren seien ihr dabei die immer gleichen Aushänge aufgefallen, erzählt sie: Vereine und Initiativen laden zu interkulturellen Grillfesten und Sportevents.

Eine gute Idee, möchte man meinen: Wer sich besser kennt, baut Vorurteile ab. Doch Said, die sich viel mit Integration und Diskriminierung beschäftigt hat – im Rahmen ihres Politik- und Ethnologie-Studiums in Tübingen, aber auch als Sprachlehrerin für Menschen ohne Deutsch- und Englischkenntnisse – stellte fest: An deren oft schwieriger Situation ändern solche Treffen meist wenig. Weder gewinnen die Menschen dadurch mehr Selbstbewusstsein, noch haben sie das Gefühl, das Leben in ihrem Viertel selbst mitprägen zu können. 

Said fragte die Menschen: “Worauf habt ihr Lust”

Said beschloss deshalb, es anders zu machen: Bevor sie neben ihrem Hauptjob als TV-Journalistin für den MDR “Perspectives” startete, organisierte sie in Grünau eine Umfrage. “Auf was habt ihr Lust?”, wollte sie von den Migrant:innen wissen – und übersetzte ihre Fragen in acht Sprachen. Die Antworten wurden zur Grundlage für ihre Arbeit.

Das Büro von “Perspectives”liegt heute in einem Einkaufscenter mitten in Grünau. Hinter einer Glasscheibe sitzen Said und ihre drei Mitarbeitenden zwischen Schreibtischen, Couch, Konferenztisch. Ganz bewusst mitten im Gewusel, nur für vertrauliche Gespräche wird ein Sichtschutz vor die Scheibe geschoben.

Den migrantischen, schwarzen und jüdischen Bewohner:innen von Grünau helfen sie nun schon seit fast vier Jahren auf mehreren Ebenen. Als Berater und Vermittlerinnen unterstützen sie beim Ausfüllen von Anträgen, bei der Job- und Wohnungssuche, bei Beziehungsfragen. Mit ihren Ideen bereichern sie Projekte mit anderen Trägern – etwa die so genannten “Pocket Rights”. Das sind hosentaschengroße, aufklappbare Flyer, die darüber aufklären, welche Rechte man bei Polizeikontrollen hat – eine Situation, in der sich Studien zufolge nicht-weiße Menschen häufiger nicht fair behandelt fühlen als weiße.

Lesungen, Straßenfeste und vieles mehr

Schließlich gibt es eine ganze Reihe von kulturellen Angeboten, die sich nach dem richten, was sich die Menschen in Saids Umfrage wünschten: Die Jungen treffen sich nun bei offenen Basketball- oder Tanztrainings. Die Älteren versammeln sich zum “Tag des Kaffees”. Es gibt einen Debattierclub, Kleidertausch-Events, Stadtrundgänge, Straßenfeste und immer wieder Filmreihen im Kino.

Mittlerweile wächst das Projekt über Grünau hinaus in die Leipziger Stadtgesellschaft. In der von “Perspectives” gegründeten Zeitschrift “Narratif” melden sich Migrant:innen mit Kurzgeschichten und Essays, Zeichnungen und Fotografien auch aus anderen Stadtteilen zu Wort, mit Lesungen oder Ausstellungen sind sie im Museum der Bildenden Künste und im Theater der Jungen Welt präsent. Noch bis 2025 ist “Perspectives” durch die Sächsische Aufbaubank finanziert. Yasemin Saids Wunsch für die Zukunft: Das Projekt soll auch danach weiterleben – und am besten mitorganisiert werden von denen, die hier leben.

Heftbox Brigitte Standard

Source: Aktue