Reise nach Marokko: Die Kunst, sich zu verlieren

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Marokko lohnt sich auch jenseits des Touri-Hotspots Marrakesch. Autorin Inka Schmeling reiste von dort nach Fès und ins Atlasgebirge – und erlebte einen mystisch-quirligen Traum. 

Ohne Zakharia wüsste ich nicht weiter. Wo genau ich gerade bin und wie ich aus dem Labyrinth an Gassen und Gässchen jemals wieder herauskommen soll – keine Ahnung. Ich bin völlig orientierungslos und darüber so begeistert wie zuletzt vielleicht auf meiner Interrail-Tour durch Europa nach dem frisch bestandenen Abi. So aufregend war Reisen schon lange nicht mehr wie auf dieser Tour durch das unbekanntere Marokko – das Marokko jenseits des Touri-Lieblings Marrakesch.

In Fès rufen die Muezzins 7 Mal am Tag zum Gebet 

Fès im Norden des Landes ist unsere erste Station, die älteste der vier Königsstädte, im achten Jahrhundert gegründet und damit älter als Marrakesch, Meknès und Rabat. Eine andere Zeit, das merke ich ziemlich schnell, während ich unserem Guide Zakharia folge, steckt hier nicht nur in den sandfarbenen Fassaden der Häuser und ihren Riads, prächtigen Innenhöfen mit Brunnen, Marmormosaiken und Orangenbäumen. Auch der Alltag folgt einem anderen Takt, einer uralten Ordnung: Die Altstadt von Fès, die Medina, ist aufgeteilt in Viertel der Zünfte – hier die Gerber, dort die Färber, da die Messerschleifer, drüben die Tischler. Es wird emsig gearbeitet, mal ein Hahn fortgescheucht, der stolz vorbeigockelt, oder man setzt sich auf ein Würfelspiel und eine Tasse Tee zusammen.

Atlasgebirge: Die Kunst, sich zu verlieren
Bunt bestückt In den Souks von Fès gibt es Kunsthandwerk ebenso wie Nepp
© Maxim Schulz

“Abdoullah!”, rufen sie zum Beispiel in der Rue Machatine, die von der Place Seffarine abzweigt, laut nach oben. Seit 45 Jahren bringt Abdoullah Tee und Mokka in die umliegenden Läden; er war acht, als sein Vater ihn zum ersten Mal losschickte. Was sich seitdem geändert hat in der Medina von Fès? Abdoullah überlegt, während er heißes Wasser auf die frischen Kräuter in meinem Glas gießt – Majoran und Rosmarin, Salbei, verschiedene Sorten Minze, Pfennigkraut. “Nicht viel”, sagt er dann. “Nur dass die Leute früher weniger Geld hatten. Dafür sind sie heute unzufriedener.”

In der Medina gibt es aber nicht nur rund 10 000 gewundene Gassen, sondern auch 128 Moscheen:Fès ist eine zutiefst religiöse Stadt. Hier rufen die Muezzins sieben statt wie andernorts fünf Mal am Tag zum Gebet, und die wichtigsten Sehenswürdigkeiten sind für nicht-muslimische Gäste gesperrt: die Moscheen ebenso wie das prachtvolle Mausoleum für Idriss II., der Fès im Jahr 809 gründete. Wenn Zakharia doch mal einen Handwerker oder Händler nach dem Weg fragen muss, dann lassen diese ihrer Erklärung ein “Inschallah” folgen – so Gott will. Das, vermutet Zakharia achselzuckend, liegt aber in gleichen Teilen an der Religiosität und der Unübersichtlichkeit des Geländes.

Das Gipfel des Atlasgebirges sind bis zu 3000 Meter hoch

So wie die Häuser in der Medina, die ihre Innenhöfe hinter schmucklosen Fassaden verbergen, so wirkt auch die Landschaft immer wieder schroff und abweisend, durch die wir am folgenden Tag auf dem Weg nach Süden fahren. Es geht durch das Mittlere Atlasgebirge, das sich zwischen Fès und dem Hohen Atlas bei Marrakesch aufwirft, knapp 500 Kilometer lang. Je höher wir auf den Bergstraßen fahren, desto karger werden die Weiden. Im Sommer treiben die Menschen ihre Ziegen und Schafe hierher, und selbst dann noch ist der Wind schneidend kalt; die Gipfel gehen auf mehr als 3000 Meter.

Atlasgebirge: Imazighen-Siedlung
Weit oben Eine Imazighen-Siedlung im Hohen Atlas
© Maxim Schulz

Hassan und seine Frau Rabha winken uns energisch hinein in die Wärme ihres Zeltes. “Seid unsere Gäste”, übersetzt unser Fahrer Rachid. Sie servieren uns süßen Tee und Einblicke in ihr Leben. Sie sind Halbnomaden, “Berber”, wie sie noch immer oft genannt werden. Doch viele von ihnen lehnen diesen Namen ab, den ihnen Fremde vor Jahrhunderten gegeben haben, bezeichnen sich lieber in ihrer eigenen Sprache als Imazighen, als freie Menschen. Hassan und Rabha leben das ganze Jahr über mit ihren Söhnen Moulay, 5, und Khalid, 14, hier oben. Trinkwasser holen sie mit dem Esel von der anderthalb Kilometer entfernten Quelle; im Winter liegt der Schnee bis zu sieben Meter hoch, wochenlang sind sie dann von der Außenwelt abgeschnitten.

“Berber” nennen sich lieber Imazighen – freie Menschen

Wir begegnen unterwegs noch anderen Imazighen: Schulkindern, die zu zweit auf dem Esel die Landstraße entlang reiten, einer Gruppe junger Frauen, die sich am Brunnen treffen, und Itto, die vier Kinder großgezogen hat und längst verwitwet ist. All das steht ihr im wahrsten Sinne ins Gesicht geschrieben – anders als sonst im Islam üblich sind Tattoos in ihrer Welt alles andere als verpönt.

Atlasgebirge: Itto
Gesichtstattoos Für Itto sind sie Teil ihrer Kultur
© Maxim Schulz

Wohl ein Drittel der Menschen in Marokko wird zu dieser Kultur gezählt. Und auch wenn sie Jahrtausende vor allem in den Höhen der Atlasgebirge und des Gebirgszuges Rif im Norden des Landes lebten, so ziehen doch immer mehr in die Täler und Städte. Wie Hassan, der jahrelang in einer Fabrik arbeitete, bevor er mit seiner Familie wieder dahin zurückkehrte, wo er aufgewachsen ist. “Das Leben ist leichter dort unten”, sagte er, “aber hier oben haben wir diese Weite der Berge.”

Gens des nuages, Wolkenmenschen, hat der französische Literatur-Nobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio die Imazighen in einem Reisebericht genannt, und hier, dem Himmel ganz nah, verstehe ich, was er meint. Und bin beseelt: So viele fremde Gerüche und Geräusche, Wörter und Werte habe ich schon lange nicht mehr um mich gehabt beim Reisen – und das gerade mal drei Flugstunden von Deutschland entfernt.

Eine ganz eigene Welt

Marokko ist ein Übermaß an Sinneseindrücken, die sich zu etwas ganz Eigenem zusammenfügen. Wie bei der Tajine, einem Schmorgefäß aus Lehm, deren Deckel sich hier täglich für uns öffnet, und immer kommt etwas anderes darunter zum Vorschein. Dampfende, duftende Gerichte aus verschiedenen Gemüsesorten und Gewürzen, aus Fleisch und Früchten, Reis und Couscous.

Immer neue Bilder legen sich aufeinander während dieser Reise durch Marokko. Die Enge von Fès, die Weite des Mittleren Atlas. Dann die Wucht der Ouzoud-Wasserfälle, der höchsten und wasserreichsten im Land. Die weichen Pastellfarben am Stausee Bin El Ouidane, der in der Hitze flimmert. Und schließlich, zum Schluss: der schneebedeckte Gipfel des Jbel Toubkal im Hohen Atlas, mit über 4000 Metern der höchste Berg Nordafrikas.

Atlasgebirge: Wasserfall
Beeindruckende Natur Die Ouzoud-Wasserfälle im Mittleren Atlas
© Maxim Schulz

Im Dörfchen Imlil, am Rande des Nationalparks Toubkal, werden unsere Koffer auf Maultiere verladen. Zu Fuß geht es von hier aus hinauf zur einstigen Sommerresidenz, dem Caïds eines lokalen Anführers. Zwei britische Brüder hatten das längst verlassene Gelände 1989 entdeckt und bauten es mithilfe der lokalen Bevölkerung zu einem Hotel auf, dem “Kasbah du Toubkal”. Bis heute arbeiten hier ausschließlich Menschen aus dem Dorf. Sie kochen die typischen Gerichte ihrer Familien, bieten Trekkingtouren durch die Berge ebenso an, wie das wirklich einmalige Erlebnis eines Besuchs im Hamam, einem original marokkanischen Badehaus. Nach dem Erdbeben im September ist das “Kasbah du Toubkal” als Einnahmequelle für die Einheimischen wichtiger denn je, und ein Teil dessen, was erwirtschaftet wird, geht an nichtstaatliche Organisationen, die etwa den Schulbesuch für Mädchen aus der Region finanzieren.

Die beeindruckende Residenz spielte übrigens kurz nach der Renovierung eine Rolle im Film “Kundun” – als Kloster des Dalai Lama in Tibet, und tatsächlich fühle ich mich hier oben, auf 1800 Meter Höhe, ein Stück weit erhaben. So unvorstellbar weit weg von meinem Alltag zu Hause. Fast wie ein Wolkenmensch.

Unsere Reisetipps für Marokko

HINKOMMEN & RUMKOMMEN
Die 13-tägige Gruppenreise “Marokko: Königsstädte und der Hohe Atlas” führt von Casablanca aus zu drei der vier Königsstädte des Landes: Fès, Rabat und Marrakesch – wir haben nur einen Teil bereist. Bei der Fahrt durch den Mittleren Atlas rund um den Stausee Bin El Ouidane lernt man das untouristische Hinterland Marokkos kennen; im Hohen Atlas werden Wanderungen angeboten. Die Tour kostet ab 3990 Euro pro Person im DZ/F, inkl. Mietwagen bzw. Transfers. Der Flug ab Deutschland wird selbst gebucht (enchantingtravels.com/de).

ÜBERNACHTEN
Riad Salam Fès. Am Rande der Medina von Fès und das ideale Beispiel für ein marokkanisches Riad mit Innenhöfen voller Mosaiken, Brunnen und Wasserbecken. DZ/F ab ca. 150 Euro (Fès, Tel. 05 35/63 89 88, riadsalamfes.com).

Kasbah du Toubkal. Am Fuße des gut 4000 Meter hohen Toubkal wurde die Sommerresidenz eines lokalen Anführers in diese charmante Eco-Lodge umgewandelt. Beschäftigt werden nur Menschen aus dem Dorf, die Einnahmen gehen in lokale Projekte. DZ/F ab ca. 200 Euro (Nationalpark Toubkal, Tel. 05 24/48 56 11, kasbahtoubkal.com/de).

Hotel La Maison Arabe. Eine Oase im trubeligen Marrakesch: In diesem Riad lässt es sich am Pool entspannen – oder bei einem köstlichen Essen. Wer die Geheimnisse der marokkanischen Küche erlernen möchte, kann einen Kochkurs buchen. DZ/F ab ca. 150 Euro (Marrakesch, Tel. 05 24/38 70 10, cenizaro.com/lamaisonarabe).

GENIESSEN
Kasbah du Toubkal. Traditionelle Küche in Imlil mit Blick auf den Toubkal gibt’s auf der Dachterrasse dieses prachtvollen Hotels. Ein absolut einmaliges Setting! (kasbahtoubkal.com/de)

La Famille Marrakech. In der Medina serviert dieses Restaurant unter Zitronenbäumen geniale Crossover-Küche: Antipasti, Pasta, Pizza, Focaccia … – gewürzt mit den Aromen Marokkos (lafamillemarrakech.com).

Plus61. Etwas außerhalb von Marrakeschs Zentrum, im Viertel Gueliz, liegt dieses helle, hippe Restaurant, das marokkanische Klassiker modern interpretiert (plus61.com).

ERLEBEN
Die Medina von Fès. Die rund 1200 Jahre alte Stadt besteht heute aus drei Teilen: der von den Franzosen im frühen 20. Jahrhundert gebauten Neustadt, einer mittelalterlichen Neustadt – und der Altstadt, der Medina. Hier sind die meisten Sehenswürdigkeiten zu finden, etwa die Grabmoschee von Stadtgründer Idriss II., der ein direkter Nachfahre von Fatima, der Tochter des Propheten Mohammed, gewesen sein soll. Wer sich im Gewirr der jahrhundertealten Gassen nicht verirren möchte, dem sei ein Guide ans Herz gelegt – zum Beispiel Zakharia, einer der beiden Gründer des Anbieters handsofmorocco-tours.com

Ouzoud-Wasserfälle. Die höchsten des Landes! Hier stürzt der Fluss Oued Ouzoud über 100 Meter in die Tiefe – wobei reichlich Gischt aufkommt. Selbst bei heißen Temperaturen also ein erfrischender Abstieg vom Parkplatz zu den Wasserbecken, wo Einheimische gern picknicken oder baden.

Stausee Bin El Ouidane. Auf fast 800 Metern sorgt dieser Stausee nicht nur für die Wasserversorgung der Region und für Strom, sondern ist auch ein beliebtes Ausflugsziel. Ringsherum sind neben Hotels auch Spazierwege entstanden, je nach Wasserstand werden Bootsfahrten angeboten.

Jardin Majorelle. Im dicht bebauten, geschäftigen Marrakesch leben rund eine Million Menschen, dazu kommen die vielen Gäste aus aller Welt – das kann einen manchmal auch überfordern. Mein liebster Rückzugsort: der Jardin Majorelle. 1980 hatten Modedesigner Yves Saint Laurent und sein Partner Pierre Bergé diesen Garten gekauft und restauriert; angelegt worden war er vom Künstler Jacques Majorelle in den 1930ern im Art-déco-Stil und mit dessen einmaligem Blauton Majorelle. Nebenan erinnert das Museum Yves Saint Laurent an Leben und Werk der Mode-Ikone, das Musée Pierre Bergé des Arts Berbères zeigt nomadische Kunst. Das Kombi-Ticket für alle drei Orte kostet ca. 30 Euro (jardinmajorelle.com).

EINKAUFEN
LRNCE. Die junge belgische Designerin Laurence Leenaert arbeitet mit lokalen Kunsthandwerkerinnen und -handwerkern zusammen. Das Ergebnis: Stücke, die Tradition und Moderne vereinen, auch in Concept Stores in Paris oder New York zu kaufen sind – und in ihrem Laden im Viertel Gueliz in Marrakesch (59 Rue Sidi, lrnce.com).

TELEFON
Die Vorwahl von Marokko ist 002 12.

Heftbox Brigitte Standard

Source: Aktue