Sex ab der Lebensmitte: "Wenn die Frauen ihre Vulva und Vagina nicht mögen, wer soll sie denn dann mögen?"

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Bei manchen schläft er ein, andere entdecken ihn vollkommen neu. Sicher ist: Sex ab der Lebensmitte ist anders als in jungen Jahren. Wir haben die Hamburger Sexologin Katrin Hinrichs gefragt, was wir jetzt wissen sollten, um eine genussvolle Sexualität zu leben.

BRIGITTE: Keine Verhütung mehr und keine Kinder, die nachts ins Bett krabbeln: Nach Familienzeit und Menopause könnte es in der Partnerschaft mit dem Sex doch eigentlich wieder richtig losgehen, oder? 

Katrin Hinrichs: Es kann auf jeden Fall eine Chance sein. Viele Frauen sagen sich aber auch: Ich bin jetzt frei und möchte mich noch mal ausprobieren und was ganz anderes kennenlernen. ‘Da ist noch so viel, was ich nicht gemacht habe, jetzt bin ich mal dran’  – das höre ich in meiner Praxis öfter und ehrlich gesagt höre ich das gerne. Ich finde es so toll, dass Frauen in dem Alter beginnen, sich wieder mehr für ihren Körper zu interessieren.

Heißt das, diese Frauen brechen aus ihrer Partnerschaft aus?

Manche schauen über den Tellerrand und steigen tatsächlich aus. Die haben jahrzehntelang funktioniert und vielleicht nicht gelernt, ihre Bedürfnisse kundzutun oder durchzusetzen und waren emotional unterversorgt. Und wenn sie dann das Gefühl haben, den Mann kann ich sowieso nicht hinterm Ofen hervorlocken, kommen sie vielleicht zu dem Schluss: Ich will das alles nicht mehr. Man merkt in dieser Zeit ja auch, wie endlich alles ist. Gleichzeitig ist noch genug Kraft da und manchmal auch mehr Lust. Ich habe mehrere Klientinnen, die sagen: Ich habe eine tolle Frau kennengelernt und irgendwie gefällt mir das besser. Der Sex ist anders und ich fühle mich gesehen, und das ist einfach großartig. 

Und was sagen Sie Frauen, die keine Trennung wollen, sondern ihre Sexualität in der Partnerschaft wiederbeleben möchten? 

Es geht immer darum, in kleinen Schritten den sinnlichen Raum aufzumachen. Das beginnt mit dem bewussten Erleben: Wie fühlt sich das eigentlich an? Oder das? Kann ich anfangen, meine Genitalien schätzen und lieben zu lernen? Dabei geht es auch um das sexuelle Selbstbewusstsein. Und das fängt an zu wachsen, wenn ich mich in meinem Körper wohlfühle, und sagen kann, ach Mensch, ich bin doch noch eine ganz coole Alte, so schlecht ist das hier alles noch gar nicht. Ich gebe den Frauen Anleitungen für zu Hause mit, damit sie anfangen, Erregung zu generieren und wahrzunehmen. Das gibt ihnen häufig einen richtigen Lust- und Selbstwertbooster und ganz viel erotische Kompetenz. 

Was ist denn erotische Kompetenz? 

Erotische Kompetenz beginnt bei einem selbst: Wie bin ich mit mir und meinem Körper verbunden? Bin ich in der Lage, autonom Dinge zu spüren, die ich schön finde? Kann ich Lust generieren, weil ich weiß, wie ich meinen Körper einsetze, wie ich atme und mich bewege? Wie genieße ich meine Körperlichkeit, meine Vagina? Ich sage zu meinen Frauen immer: Machen Sie Ihre Vagina wieder happy! 

Und wie mache ich das? 

Fangen Sie an, sie zu spüren. Pflegen Sie sie mindestens einmal am Tag, zum Beispiel mit Mandelöl, gehen Sie mit den Fingern hinein und lernen Sie sie kennen. Tun Sie alles, was sie belebt. All das kann den sexuellen Aufbruch ausmachen, denn die Vagina kann viel mehr und hat viel mehr erotisches Potenzial, als die meisten wissen. 

Wie kann es sein, dass Frauen im fortgeschrittenen Alter ihren Körper so wenig kennen?

Die Frauen, auch die jungen, haben ihr Geschlecht oft gar nicht richtig kennengelernt. Da hat sich wenig geändert. Wenn ich sie frage ‘Mögen Sie Ihr Geschlecht, haben Sie das mal angeschaut?’ höre ich oft: ‘Nee, nicht wirklich’. Aber wenn die Frauen ihre Vulva und Vagina nicht mögen, wer soll sie denn dann mögen? Das hat auch mit eigener Wertschätzung und Akzeptanz zu tun. 

Akzeptanz wird mit dem Alter nicht unbedingt einfacher. In der Gesellschaft werden junge Frauenkörper gefeiert – und wenn ich mich umschaue, finden die wenigsten Frauen über 50 sich sonderlich attraktiv.

Und das ist so ungerecht! Männer mit grauen Schläfen sind sexy und Frauen mit grauen Haaren sind aus ihrer Spielzeit heraus? Sexyness ist keine Frage des Alters. Frauen, die sagen, ich finde meinen Körper gut und ich weiß, wie ich ihn einsetze, sind sexy. Sonst müssten wir alle mit 50 sagen: So, das war’s jetzt, ich reiche die Sex-Rente ein. 

Das tun manche Frauen in der Lebensmitte auch. Ich habe Freundinnen, die sagen, sie sind mit dem Thema durch.

Und das ist vollkommen in Ordnung. Es wirft nur die Frage auf: Was ist eigentlich, wenn beide Partner die sexuelle Insolvenz einreichen? Seine Erektionsfähigkeit wird ja nicht besser und sie sagt vielleicht, mir bringt das sowieso keinen Spaß, ich habe vaginale Trockenheit und Schmerzen, ich schwitze mich nachts tot und schlafe schlecht. Ich finde: Wenn beide fein damit sind, ist das vollkommen okay. 

Es wird aber häufig suggeriert, eine sexlose Beziehung sei dem Untergang geweiht. Sehen Sie das anders?

Das kommt darauf an: Wenn ein Partner mehr will als der andere, haben wir natürlich Sand im Getriebe. Aber wenn beide fein damit sind und sagen, wir gehen zusammen essen, wir haben unsere liebgewonnenen Rituale … dann ist das so!

Was machen Sie mit Paaren, bei denen einer Sex will und der andere nicht?

Die frage ich, was sie beim Sex so machen. Und – ehrlich gesagt – wenn ich das höre, denke ich manchmal: Da hätte ich auch nicht so viel Lust drauf – zum Beispiel schnell noch sonntagabends vor dem Tatort. Mal ist das in Ordnung. Aber es hört da auf, wo er immer das Gleiche macht oder sie sagt: Ich mach‘ mit, damit ich erst mal keinen Stress mehr habe. Das fühlt sich nicht gut an.  

In ihrem Buch "The Age of Sex: Über Liebe und Lust im Laufe unseres Lebens" geht Katrin Hinrichs auf sexuelle Fragestellungen in jeder Lebensphase ein (EMF Verlag, 20 Euro).
In ihrem Buch “The Age of Sex: Über Liebe und Lust im Laufe unseres Lebens” geht Katrin Hinrichs auf sexuelle Fragestellungen in jeder Lebensphase ein (EMF Verlag, 20 Euro).
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Wie kommt man aus solchen langweiligen Routinen raus?

Paare müssen lernen, den Fokus zu verändern: von “Erektion – Penetration – Orgasmus – fertig – aus” auf den Moment des Spürens. Die schnelle Welle funktioniert nicht mehr, wir haben jetzt eine andere Art von Sexualität. 

Und wie sieht die aus?

Es geht nicht um das dreihundertste Mal Missionarsstellung, es geht um Erregung und Intimität: Was spüre ich von Millimeter zu Millimeter und kann ich das genießen? Wenn nicht, was kann ich anders machen? Und kann ich mich zeigen, wie ich bin? Wir sollten uns wieder mehr umeinander kümmern, mal wieder küssen, zusammen in die Badewanne gehen. All diese Dinge gehen ja ein bisschen verloren über die Jahre. Aber das Schöne ist: Lust und Erregbarkeit haben kein Verfallsdatum. Alles kann ein bisschen länger dauern, aber es ist immer noch da. Und je mehr ich meinen Körper und mein Genital kenne, desto weniger habe ich das Gefühl: Er müsste jetzt aber dies oder das machen. Wenn ich selbst weiß, wie ich mich bewege, damit ich schön finde, was ich spüre, kann ich selbst Erregung generieren. Womit wir wieder bei der erotischen Kompetenz wären. Die ist das Ziel – denn nur eine genussvolle Sexualität macht Lust auf mehr. 

 

Source: Aktue