Tag des Grundgesetzes: Wer wollen wir sein in dieser Welt?

Aktuel

Nicht mit der Masse schwimmen, seine Meinung sagen: Das ist wichtig für unsere Demokratie – und kann Riesenspaß machen, weiß Cesy Leonard, 41, Gründerin der Initiative “Radikale Töchter”.

In meinem Leben habe ich so einige unkonventionelle Entscheidungen getroffen. Als Jugendliche habe ich Hip-Hop gemacht und mit Sprühdosen meine Heimatstadt Stuttgart verschönert. Ich habe schon früh gelernt, dass es wichtig ist, nicht mit der Masse zu schwimmen, sondern meine eigene Meinung zu sagen.

Die Idee zu unserer Demokratie-Initiative kam mir, weil ich nach einer Ausbildung an der Schauspielschule politisch engagierte Filme gedreht habe. Damals habe ich das Thema Bildung für mich entdeckt: Wissen weitergeben, in Vorträgen und Workshops. Aber Wissen allein genügt nicht. Wir müssen handeln.

Darum gibt es seit 2019 “Radikale Töchter” (radikaletoechter.de). Unser Name steht nicht für ein Geschlecht, sondern für den Anbruch einer neuen, nicht patriarchalen Zeit. Bei “Radikale Töchter” können natürlich auch Männer mitmachen.

Mut statt Wut

Wir wollen gemeinsam gesellschaftliche Wut-Themen in Mut-Themen verwandeln. Menschen ins Handeln bringen, ob es um den Verlust unserer Demokratie geht, um den Klimaschutz oder um Rassismus. Unser Augenmerk liegt auf Jugendlichen im ländlichen Raum Ostdeutschlands, wo besonders viele Menschen nicht zu Wahlen gehen. Ein weiterer Fokus sind Frauen und Mädchen, weil sie deutlich mehr Hass erfahren, wenn sie politisch Haltung zeigen.

Wir bieten diesen Jugendlichen in Schulen, Ausbildungsbetrieben und Jugendzentren Workshops an, die das Politische mit Aktionen verbinden. Als Erstes fragen wir die jungen Leute, was sie wütend macht. In einer Gruppe von Auszubildenden sagte neulich ein junger Mann, der in einem Schuhgeschäft arbeitet, er sei nicht politisch. Dann erzählte er, wie wütend es ihn mache, dass seine Kollegin oft von Kunden ignoriert wird, weil sie ein Kopftuch trägt. Durch unseren Workshop wird ihm klar: Das ist Rassismus. Ich bin dagegen und ich möchte etwas tun.

So geht es vielen Teilnehmenden. Sie denken vielleicht zum ersten Mal darüber nach, was in ihrem Umfeld politisch ist und welche Haltung sie dazu haben. Das allein erfordert Mut, und diesen Mut muss man trainieren wie einen Muskel, damit er größer wird und zum Handeln führt.

Wer will ich sein?

Ich trainiere meinen eigenen, indem ich mich bemühe, nach meinen Werten zu leben. Wenn ich Angst habe, sie zu vertreten, mache ich mir bewusst, dass Werte wichtiger sind, als nicht aufzufallen. Die Frage “Wer will ich sein in dieser Welt?” ist mein ständiges Training.

Kriege, Rechtsruck, Inflation und Klimakatastrophen machen viele gerade hoffnungslos. Unsere kapitalistische Gesellschaft verlangt immer nach einer Sofortlösung. Aber Demokratie ist ein Marathon, ebenso wie die Klimakrise. Wir müssen also auch Hoffnungsarbeit leisten und fragen: Was gibt dir Kraft? Wo hast du erfolgreiche Initiativen erlebt? Wo kannst du Verbündete finden, damit du den Mut nicht verlierst?

Dabei hilft mir vor allem Humor und Spaß. Politische Teilhabe muss wieder sinnlich und verbindend werden, damit Menschen langfristig dabeibleiben. Mit bunter Aktionskunst gehen wir Themen konkret an: Eine Teilnehmerin, die mit dem Rad zum Workshop erscheint, ist gestresst davon, wie oft sie unterwegs angehupt wurde. Wir überlegen zusammen: Welche Stadtentwicklungsideen gibt es? Wer könnte ihre Unterstützer-Bande sein, was ihre Bühne? Zum Schluss gestaltet sie einen Pop-up-Radweg, der sich wie ein Teppich ausrollen lässt, wo immer er gebraucht wird.

Nach unseren Workshops gehen die Teilnehmenden oft zusammen auf Demos und vernetzen sich auf den sozialen Medien. Meine Vision ist es, dass überall im Land kreative Zellen entstehen, die sich für Demokratie einsetzen.

Der Satz, der mir am meisten Mut macht:

“Es geht nicht um mich, es geht um die Sache.” Wenn ich weiß, wofür ich kämpfe, kann ich auch ohne vorbereitete Rede oder Make-up vor die Welt treten und mich dennoch nicht verletzlich fühlen.

Das würde ich anderen gern mitgeben:

Wenn du den Mut verlierst, schau dich ganz bewusst um, was schon alles gelungen ist und was du mit anderen bewegt hast.

Heftbox Brigitte Standard

Source: Aktue