Traumabewältigung: Thérèse Owitonze hilft Menschen, sich selbst zu heilen

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Wer sie ist: Pionierin in Ruanda

Was sie macht: Erinnerungen ordnen

Wem das hilft: Menschen, die Unmenschliches erlebt haben

Wenn Thérèse Uwitonze den Menschen, die zu ihr kommen, erklären will, warum ihr Körper und ihr Geist nicht mehr normal funktionieren, greift sie gern zu einem Schaubild. Über der linken Seite der Zeichnung steht: “Normale Situation”, darunter sind die drei Bereiche des menschlichen Gehirns skizziert – das Großhirn, verantwortlich fürs Denken und Planen, das Mittelhirn, zuständig für Gefühle, und der Hirnstamm, auch Reptiliengehirn genannt, der urzeitliche Reaktionen wie Flucht, Kampf oder Sich-tot-Stellen auslöst.

Über der rechten Seite des Schaubilds steht: “Traumatisches Erlebnis”. Das Großhirn ist durchgestrichen: “Arbeitet nicht”. Das Mittelhirn befindet sich im Krisenmodus. Und unter dem Hirnstamm steht: “Das Reptiliengehirn ist der Boss.”

So kommt es, dass Frauen und Männer, die bisher nur wenig Zugang zu Bildung hatten, von Thérèse Uwitonze ihre erste Lektion in Hirnforschung erhalten. Die 47-Jährige ist auf die Heilung von Traumata spezialisiert und damit eine Pionierin in Ruanda. 2012 gründete sie in Butare, im Distrikt Huye im Süden des Landes, die Mental Health Dignity Foundation (MHDF). In dem Therapiezentrum können Menschen nach oft langen Leidensjahren herausfinden, was mit ihnen los ist. Warum sie zum Beispiel diese Gewaltausbrüche haben, die sich teils gegen ihre Familie oder Tiere richten. Wie die Frau, die ihre Kühe getötet hat und hinterher nicht mehr wusste, warum. Oder eine andere, die wie von Sinnen ihre Nachbarin ins Feuer stieß. Oder warum sie immer wieder Albträume oder schlaflose Nächte haben, traurig oder erstarrt sind, Kopfschmerzen haben oder Panikattacken.

Das gesellschaftliche Trauma von Ruanda

“Ich mache ihnen dann bewusst, dass es ihnen schlecht geht, weil sie diese furchtbare Gewalt während des Genozids erlebt haben”, sagt Thérèse Uwitonze. “Und dass alles, was sie erleben und tun, nicht ihre Schuld ist, sondern eine Folge des Traumas.”

Im April ist es 30 Jahre her, dass in Ruanda eines der größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts geschah. Mehr als 800 000 Menschen, die meisten von ihnen gehörten der Minderheit der Tutsi-Volksgruppe an, wurden von Angehörigen der Hutus ermordet, über 250 000 Frauen wurden vergewaltigt. Monatelang hatte die Hutu-Mehrheit das Massaker durch Hasspropaganda angestachelt. Es war ein Massenmord durch die Allernächsten, Nachbarn, Ehemänner, Freunde, Väter. Dieses Trauma hat das ostafrikanische Land bis heute im Griff. Rund ein Drittel der Bevölkerung leidet an posttraumatischen Belastungsstörungen, kurz: PTBS. Unter ihnen sind nicht nur die Überlebenden des Genozids, sondern auch deren Nachkommen.

“Traumatisierte traumatisieren andere. So setzt sich die Gewalt von einer Generation in die andere fort”, sagt Uwitonze im Videocall. “Doch hier in Ruanda war die Traumatheorie bis vor Kurzem noch völlig unbekannt.” Nach ihrem Psychologiestudium in den 2000er-Jahren an der National University of Rwanda und mehreren Fortbildungen zur Traumatherapie, erzählt sie, gab es keine Jobs im Land. Also beschloss sie, ehrenamtlich in ihrer Gemeinde in Gisagara im Südosten Ruandas zu arbeiten. Der Bedarf war groß. “Ich traf all diese Menschen, die unter PTBS litten, fing an, ihre Fälle zu sammeln und auszuwerten. Und ich wollte anwenden, was ich gelernt habe.” 2012 gründete sie das Therapiezentrum in Huye, das erste und bisher einzige zur Traumabehandlung in Ruanda. Es wird nur durch Spenden finanziert, und Thérèse Uwitonze ist dort nach wie vor ehrenamtlich tätig.

Entabuisieren, sprechen und heilen

Anfangs kamen vor allem Frauen. Sie arbeitete in Gruppen mit ihnen. Später wurde die Einzeltherapie immer wichtiger. “Vor allem die vergewaltigten Frauen sprachen in der Gruppe nicht. In unserer Kultur ist das Reden über Sex tabu”, sagt Uwitonze. Derzeit betreut sie 144 Menschen, die meisten davon, zwei Drittel, sind nach wie vor Frauen. Weil ihr das zu wenig Männer sind, hat sie angefangen, auch männliche Kollegen zu schulen, die im ganzen Land tätig sind. “Wir sind jetzt insgesamt 577, die Traumafolgen behandeln können, aber es müssten noch viel mehr sein für die Millionen Betroffenen.”

Wie aber heilt man ein Trauma? Eine Methode, mit der Uwitonze bereits viele Erfolge hatte, ist die Narrative Expositionstherapie, bei der es darum geht, das eigene Leben von Beginn an bis heute zu betrachten, das Schöne, Gelungene in bestimmten Phasen und das Schreckliche während der Gewalterfahrung. Und dadurch schreckliche Bilder, Gerüche oder Schmerzen, die die Traumatisierten immer wieder überfallen, zeitlich und räumlich in der Vergangenheit zu lokalisieren. “Das hilft, die Angst zu brechen”, sagt Uwitonze. Aber es gebe auch ganz einfache Methoden, um in der Gegenwart anzukommen, die jede und jeder allein zu Hause anwenden könne. Sie schließt die Augen, hält sich mit einem Finger ein Nasenloch zu, atmet ein, durch den Mund aus. Und wiederholt das Ganze dann mit dem anderen Nasenloch. „Es geht darum, dass die Menschen lernen, sich selbst zu heilen. Ich gebe ihnen nur das Werkzeug dafür mit.“ Mehr als 12 000 haben ihr Team und sie so schon behandelt.

Heftbox Brigitte Standard

Source: Aktue