"Überall warten Wunder auf uns": Was ich als Ungeduldige von einem Warteprofi über das Leben lernte

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Unsere Autorin Susanne Arndt ist leidenschaftliche Wartehasserin – und suchte Rat bei Warteexperte Armin Nagel. Kann man schöner Warten lernen? Man kann!

Wir warten auf den Bus, die Bahn, auf bessere Zeiten, eine Entschuldigung, den Geistesblitz, die große Liebe, den wichtigen Anruf. Und Wladimir und Estragon warten bis heute auf Godot. Aber warum fällt uns das Warten eigentlich oft so verdammt schwer – und wie lernen wir, das Beste daraus zu machen? Das wollte Susanne Arndt von Warteexperte und Servicekünstler Armin Nagel, 54, wissen.

BRIGITTE: Ich verwandle Warten in Wut – und muss mich beherrschen, die Frau in der Schlange vor mir nicht anzufahren, die gut gelaunt mit der Kassiererin plaudert. Können Sie mir helfen?

Armin Nagel: Da kann ich Sie erstmal beruhigen: Das ist ganz normal.

Kennen Sie sowas etwa auch?

Ich beschäftige mich seit Jahrzehnten mit dem Thema Warten, aber auch ich ärgere mich kurz, wenn beispielsweise mein Zug Verspätung hat. Ich versuche aber, das nicht so offensiv zu machen, denn ich finde es unangenehm, wenn die Leute das ganze Abteil daran teilhaben lassen, dass sie jetzt ein Riesenproblem haben. Alle anderen haben ja auch ein Problem.

Wie schaffen Sie es, sich nicht in die Sache reinzusteigern?

Erstmal tief durchatmen, das bringt einen immer runter. Und dann versuchen, in die Selbstwirksamkeit zu kommen. Das heißt, zunächst rauszufinden, wie lange es wohl dauern wird: eine Stunde oder vielleicht nur zehn Minuten? Der nächste Schritt wäre, andere zu informieren, denn häufig gerät man ja in Stress, weil jemand auf einen wartet. Und ich versuche, die Sache mit Leichtigkeit zu nehmen, indem ich mich frage: Geht die Welt davon unter? Meistens lautet die Antwort Nein – und schon erlebt man sowas wie Akzeptanz. 

Ist Akzeptanz das Zauberwort der erfolgreich Wartenden?

Das Warten kann man nicht wegzaubern. Aber man muss eine Situation akzeptieren, bevor man sie verändern kann. Gutes oder schlechtes Warten entscheidet sich im Kopf: Ich muss den Perspektivwechsel hinkriegen – raus aus der Opferhaltung, rein in die Selbstwirksamkeit.

Bis ich das schaffe, wird es noch dauern … ich kriege schon Puls, wenn jemand länger als zehn Sekunden an seiner WhatsApp-Antwort schreibt. Warum macht Warten mich eigentlich so aggressiv?

Vielleicht, weil Warten viel mit Macht und Ohnmacht zu tun hat. Mächtige Menschen lassen warten, ohnmächtige Menschen müssen warten. Für einen Geflüchteten, der sich jahrelang gedulden muss, bis er erfährt, ob er im Land bleiben darf, ist das extremst unangenehm. Oder wenn man auf eine Diagnose wartet. Deswegen ist das ja auch so ein negativ besetztes Thema. Aber ich finde es schön, an negative Themen ranzugehen und zu schauen: Gibt es daran vielleicht nicht doch irgendwas Positives?

Was um Himmels Willen könnte das beim Warten sein?

Im positiven Sinn ist Wartezeit keine gestohlene, sondern geschenkte Zeit. Wenn wir es als solches erkennen und annehmen, kann Warten ein Geschenk sein.

Und was finde ich, wenn ich dieses zweifelhafte Geschenk auspacke?

Warten ist nicht nur ein Geduldsmuskeltraining, es ist auch eine Form des Aufmerksamkeitstrainings. Es ist eine Chance, Dinge wahrzunehmen, die wir sonst nicht wahrnehmen. Denn gerade dort, wo nichts passiert, ist viel wahrnehmbar. Häufig denken wir, wir müssten durch die halbe Welt reisen, um was Tolles zu erleben. Wir sehen aber nicht die hübsche Blume neben der Bushaltestelle, die uns das gleiche schöne Gefühl geben kann. Letztlich warten überall Wunder auf uns.

In Ihrem Buch schreiben Sie: “Stumpfes Warten hilft, das Gehirn zu warten und die Leistungsfähigkeit zu erhöhen.” Ist die hohe Kunst des Wartens also, gar nichts zu tun?

Wir ballern unser Gehirn tagtäglich so mit Informationen zu, dass es tatsächlich unsere Leistungsfähigkeit steigern kann, wenn wir eine Zwangspause nutzen, um ihm Ruhe zu gönnen. Das Gehirn braucht ja eine Inkubationszeit, um Dinge zu vernetzen. Pausen sind immer auch Chancen, Ideen zu generieren und kreativ zu sein. 

Das Smartphone also lieber stecken lassen?

Man könnte schon mal versuchen, dem Impuls zu widerstehen, das Handy zu zücken. Und stattdessen nach links und nach rechts zu schauen: Vielleicht steht da gerade jemand neben mir, der auch wartet und mich anlächelt und wir kommen ins Gespräch. Sowas haben wir ja komplett verlernt. Allerdings nehme ich das Handy beim Warten schon auch mal zur Hand …

Aha?

Ich habe einen Ordner “Wartemomente” auf meinem Smartphone, in dem ich tolle Sachen abspeichere. Ich sage mir dann: Okay, ich warte jetzt, also mache ich was besonders Schönes und höre mir den Podcast an, den ich schon immer hören wollte. Oder ich rufe jemanden an, bei dem ich mich ewig nicht mehr gemeldet habe.

Ich lege im Alltag alle Wege mit dem Fahrrad zurück, damit ich ungehindert durchkomme: Ich muss auf keinen Bus warten, kann am Stau vorbeiziehen und an Kreuzungen mit den Ampelphasen jonglieren. Sollte ich langsam mal auf den Bus umsteigen, um die Vorzüge des Wartens zu entdecken?

So weit würde ich nun nicht gehen – ich stelle mich auch nicht freiwillig in die längere Schlange. Es sei denn, ich sage mir, okay, ich habe gerade gar keinen Stress, ich genieße das Warten jetzt bewusst. Wir sind ja alle immer in Zeitnot, und dann steckt man plötzlich in einer Situation, aus der man nicht rauskommt, und merkt: “Wow, endlich habe ich Zeit!”

Gerne gewartet habe ich nur in der Schwangerschaft auf das Baby. Die Vorfreude war groß, die Hormone standen günstig – und vor allem war es ein inneres Warten, das mich im Alltag nicht ausgebremst hat. Als mein Sohn acht Tage früher kam als erwartet, fühlte ich mich sogar kostbarer Wartezeit beraubt. Was kann ich daraus für andere Wartesituationen lernen?

Dass Warten schön sein kann und dass das schöne Warten eine gewisse Dramaturgie hat, die man zelebrieren kann. Das klassische Beispiel dafür ist das Warten auf Weihnachten, das wir im Advent inszenieren: Die erste Kerze brennt, die zweite, dritte, vierte …

Wenn Warten schön ist, warum hat es dann einen derart schlechten Ruf? “Dumm rumsitzen” ist ein geflügeltes Wort, vielerorts kann man sich verkürzte Wartezeit erkaufen: bei den Fast Lanes am Flughafen, dem Schnelleinlass im Louvre …

Mein Ziel ist es, dass Menschen erkennen, dass dumm rumsitzen gar nicht so blöd ist. Denn wenn man mal darüber nachdenkt, stellt man fest: Eine Welt ohne Warten wäre eine schlechtere Welt.  

Überzeugen Sie mich bitte.

Im ersten Moment denkt man, es wäre das Schlaraffenland: Ich schnippe mit den Fingern und alles, was ich will, ist da. Aber was wäre das für ein Leben? Es ist ja gerade das Schöne, dass es Zeit braucht, bis gute, kreative Dinge entstehen. Warten ist die hohe Kunst, sich für den Kuss der Muse bereitzuhalten. Auch gute Gespräche erfordern Pausen. Mit dem Warten kommen bessere Worte. Wir müssen Stille aushalten, damit nicht jeder Gedanke unseres Gegenübers im eigenen Redefluss erstickt. Und wie oft haben wir schon Geld zum Fenster rausgeschmissen, weil wir zu ungeduldig waren und etwas sofort haben wollten, statt erstmal ein paar Nächte drüber zu schlafen?

Armin Nagel, 54, ist Servicekünstler, Redner und Autor. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit der Kunst des Wartens. In der Corona-Pandemie hat er eine Telefon-Hotline ins Leben gerufen, bei der man das Warten auf bessere Zeiten lernen konnte. Er kreierte die Performance "W-ART – Die Kunst des Wartens" für das Schauspiel Köln und die Kunstinstallation "Schöner Warten", die 2022 durch deutsche Bahnhöfe tourte. 
Armin Nagel, 54, ist Servicekünstler, Redner und Autor. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit der Kunst des Wartens. In der Corona-Pandemie hat er eine Telefon-Hotline ins Leben gerufen, bei der man das Warten auf bessere Zeiten lernen konnte. Er kreierte die Performance “W-ART – Die Kunst des Wartens” für das Schauspiel Köln und die Kunstinstallation “Schöner Warten”, die 2022 durch deutsche Bahnhöfe tourte.
© Thorsten Schiller

Sie mussten das Warten auf sehr schmerzhafte Weise erlernen: In Ihrer Zeit als Zirkusschüler in England wurden Sie auf dem Fahrrad von einem LKW erfasst und waren sehr lange krank.

Der Unfall und die darauffolgenden dreieinhalb Jahre Wartezeit mit mehreren OPs war das Kernereignis in meinem Leben, bei dem ich gemerkt habe: Ich muss mich mehr erden. Vor dem Unfall hatte ich mal Probleme mit dem Arm und der Arzt meinte, dass ich zwei Wochen mit dem Training pausieren muss. Das war für mich völlig undenkbar! Nach dem Unfall hatte ich eine vollkommen andere Zeitwahrnehmung. Ich habe gelernt, dass oft Geduld notwendig ist, um weiterzukommen, dass alles seine Zeit braucht, dass man Dinge auch später erreichen kann – und dass man nicht alles sofort haben muss.

Haben Sie den ultimativen Tipp für alle Menschen da draußen, die das schöne Warten noch lernen müssen?

Die erste Regel lautet: Nicht auf die Uhr gucken! Und die Erfahrung zeigt: Je mehr ich mich ärgere, desto länger dauert es.

© PR

In seinem Buch “Schöner Warten: Über den Umgang mit einem unvermeidlichen Zustand” zeigt Armin Nagel zusammen mit Persönlichkeiten wie Bernhard Hoecker, Jürgen Becker oder Reiner Calmund auf unterhaltsame Weise die positiven Aspekten des Wartens auf, und welche Möglichkeiten uns dieser Freiraum schenken kann (Lübbe Life, 18 Euro). 
 

 

Source: Aktue