Überflüssige Untersuchungen: "Es könnte sein …": (K)eine Diagnose

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Je mehr untersucht und getestet wird, desto häufiger findet die Medizin etwas Auffälliges. Anja Reinbothe-Occhipinti hat die Nase voll von Befunden, die nur verrückt machen.

Angefangen hatte es mit meiner letzten Frauenärztin im Januar 2020. Damals war ich kurz vor Mitte 40 und lebte auf dem Brandenburger Land. Frauen ab 35 können – und sollten sich – alle drei Jahre auf Humane Papillomviren (HPV) testen lassen. Die Erreger führen schlimmstenfalls, allerdings sehr selten, zu Gebärmutterhalskrebs. In jenem Jahr war mein Abstrich erstmalig positiv. Das bedeute noch nichts, beruhigte mich die Ärztin am Telefon: “In zwölf Monaten testen wir erneut.” So lange solle jetzt nichts passieren, fragte ich alarmiert? Die meisten dieser Infektionen heilen innerhalb von ein bis zwei Jahren von allein aus, so die Antwort. Nur rund zehn Prozent aller HPV-Infektionen verbleiben länger und können Gewebe verändern. Ich entspannte mich.

Panik nach dem zweiten Befund

Das Jahr darauf war mein Abstrich wieder positiv. Die Infektion wurde mit “Klasse 1” bewertet. Wumm, da war nun ein Befund! Die Frauenärztin überwies mich zum Spezialisten nach Berlin. Die Wochen bis dahin geriet ich immer wieder in Panik, die sich nicht abstreifen ließ, ähnlich wie frischer Kaugummi am Schuh. Wuchs in mir Krebs heran? Was sollte aus meinem Mann und meinen zwei Kindern werden? Gerade erst hatte ich einen neuen Job begonnen.

Wie ein Häufchen Elend saß ich dann schließlich vor dem Spezial-Gynäkologen in seiner Kreuzberger Praxis. Der erfahrene Mann studierte meine Daten und fragte: “Wieso sind Sie hier? Das ist nicht nötig mit Ihren Werten.” Ach so? Ich horchte auf. Nachdem er mich mit dem Kolposkop, einer Stereolupe, untersucht hatte, gab er final Entwarnung: “Der Anteil der Viren ist bei Ihnen wirklich so gering, das gleicht sich wieder aus.”

Die ganze Seelenlast krachte von mir ab wie eine dicke Eisschicht bei Tauwetter. Meine Frauenärztin hatte mich mit ihrer Vor-Diagnose völlig unnötig in Angst und Schrecken versetzt. Und so geht es, wie meine Recherche ergab, nicht nur mir.

Die Gründe für nutzlose Untersuchungen

“Unser Gesundheitssystem setzt einige Anreize, die zu vielen Untersuchungen führen, die eigentlich keinen Nutzen für den Patienten haben”, erklärt Professor Dr. Verena Vogt, die am Universitätsklinikum Jena zur Überversorgung im Gesundheitswesen forscht. “Technische Leistungen werden besser vergütet, als sich mit dem Patienten ausführlich zu unterhalten.” Es sei im Praxisalltag weniger Aufwand, Untersuchungen und Behandlungen anzusetzen, also etwas zu tun – und nicht zuletzt erwarten viele Menschen von der Medizin genau das –, statt zu erklären, dass erst mal nichts zu tun, auch eine Option wäre. “Gleichzeitig wollen sich Ärzte natürlich absichern vor rechtlichen Konsequenzen, aus Angst etwas zu übersehen.”

Lieber auf Nummer sicher zu gehen, ist aber nur die eine Motivation. Eine qualitative Befragung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung ergab, dass Ärzt:innen Untersuchungen und Behandlungen, die eigentlich nicht notwendig sind, auch durchführen, weil sie diese als Geste der Zuwendung und Fürsorge sehen. Patient:innen würden sie auch als solche wahrnehmen und, wenn sie gesetzlich versichert sind, eher Unter- als Überversorgung befürchten. Außerdem können, so zeigen andere Studien, Mediziner:innen Nutzen und Risiken von Screening-Maßnahmen oft selbst nicht richtig einordnen oder vermitteln. Der Kreuzberger Spezialist nahm sich die Zeit, die ein solches Gespräch braucht, und er kannte auch die entscheidenden Zahlen.

“Etwa 80 Prozent aller Frauen und Männer haben im Laufe ihres Lebens einmal einen solchen Virus gehabt. Bei einer regelmäßigen Teilnahme am Screening findet sich bei jeder Frau dieses Ergebnis mit hoher Wahrscheinlichkeit”, sagt Wissenschaftlerin Verena Vogt. In meinem Fall ging ich beruhigt aus der Praxis, und beim Abstrich im Jahr darauf hatten sich meine Werte tatsächlich normalisiert.

Doch nicht “nur” Nasenbluten

Als wir im vergangenen Sommer dann vom Land zurück in eine Stadt zogen, setzte bei meinem großen Sohn, 13, plötzlich tägliches heftiges Nasenbluten ein. Der Allgemeinarzt (einen Kinderarzt mit freien Kapazitäten fand ich auf die Schnelle nicht) überwies uns ans Labor. Drei Röhrchen mussten gefüllt werden, das dauerte und tat weh. “Gleich hast du es überstanden”, tröstete ich meinen Sohn, hatte mich jedoch geirrt.

Eine Woche später eröffnete uns der Arzt, dass das viele Nasenbluten keine tiefergehende Ursache hätte. Kurze Entspannung, doch schon setzte er zu einem “Aber” an: Die roten Blutkörperchen seien ja ausgewogen, doch die weißen, die vor Krankheitserregern und Tumorzellen schützen, seien deutlich unter der Norm. “Ich bin kein Spezialist für die junge Zielgruppe und kann Ihnen nicht genau sagen, was das bedeutet.” Unter mir tat sich der Boden auf. “Es könnte das Pfeiffersche Drüsenfieber sein”, so der Arzt. Oder Schlimmeres, schoss es mir durch den Kopf. Der leibliche Vater meines Sohnes war mit 30an Knochenkrebs erkrankt. Bitte nicht! Mein Kind wird doch erst 13! “Ich schicke Sie noch mal ins Labor. Wir brauchen Vergleichswerte.”

Das hieß: weitere zwei Wochen warten. Beinahe 24/7 malte ich mir desaströse Szenarien aus, während ich händeringend nach einem Kinderarzt suchte und schließlich einen fand. Als der Befund vorlag, ließ der uns aufatmen: “Die Werte der weißen Blutkörperchen haben sich wieder normalisiert.” Unerkannte Infekte seien die Ursache gewesen. Ich hätte heulen können vor Glück.

Mammografie alle 2 Jahre – notwendig oder unnötig?

Und dann kam der Kontrolltermin bei meiner neuen Frauenärztin. Ein kurzer irritierter Blick beim Abtasten meiner Brust. Sie hätte da etwas erspürt, neben der rechten Brustwarze. Ein Knoten? Mein Herz raste. Vielleicht auch nur verhärtetes Gewebe, beruhigte sie. Auf dem Ultraschall konnte sie nichts Bedenkliches sehen. “Trotzdem schicke ich sie zur Mammografie. Ab 50 sollten Sie eh dort hin.” Ja gut, aber ich bin gerade 48 geworden.

Das Mammografie-Screening, zu dem Frauen ab 50 alle zwei Jahre eingeladen werden, ist das Beispiel für die Gratwanderung zwischen Sicherheit und Verunsicherung. “Der Nutzen ist aufgrund der potenziellen Überdiagnosen umstritten”, sagt Wissenschaftlerin Verena Vogt. Ziel sei, die ganz frühe Erkrankung zu erkennen und dagegen vorzugehen. Das ist gut, denke ich, und ein Grund dafür, dass wir heutzutage immer älter werden. Natürlich wäre es wünschenswert, dass es dabei keine sogenannten falsch positiven Befunde gäbe, aber komplett vermeiden lassen die sich nicht. Das bestätigt auch Dr. Verena Vogt. Doch mein Fall liegt anders: Ist es wirklich notwendig, erst in Angst und Schrecken versetzt zu werden, obwohl – wie bei mir – auf dem Ultraschall nichts zu sehen war, um dann bei jeder Entwarnung das Leben neu zu feiern? Was kann ich ganz konkret tun, um mich nicht verrückt machen zu lassen?

“Damit der Patient besser einschätzen kann, ob weitere Untersuchungen wirklich notwendig sind, hat die amerikanische Initiative ,Choosing Wisely‘, also ,Klug entscheiden‘, die Empfehlung herausgegeben, dem Arzt fünf Fragen zu stellen”, erfahre ich von Verena Vogt. “Brauche ich diese weitere Behandlung wirklich? Was kostet sie? Was sind die Risiken? Gibt es einfachere Optionen? Was passiert, wenn ich nichts tue?”

Das Gedankenkarussel beginnt sich zu drehen

Diese Fragen merke ich mir und werde sie künftig immer ansprechen, doch den Mammografie-Termin habe ich nun mal schon. Er schwebt wie ein Damoklesschwert über mir. Meine Gedanken beginnen wieder zu galoppieren: Bin ich die erste Frau in meiner Familie mit Krebs? Meine Kinder brauchen mich doch! Was wäre, wenn ich nicht mehr da wäre? Gedankenkarussell.

So sehr mich Gianni, mein Mann, auch zu beruhigen versucht: Ich bekomme die Angst nur schwer in den Griff. Wer mir stattdessen hilft? Meine Oma. Sie erreicht mich in Tränen aufgelöst, als sie einen Tag nach dem Termin bei der Gynäkologin anruft, und schon heule ich ihr die Ohren voll. Sie versteht, dass mir der Knoten in der Brust Angst macht und erzählt von meiner Tante, die vor Jahren eine ähnliche Diagnose hatte: “Sie musste immer wieder in die Praxis. Und dann war der Knoten plötzlich verschwunden.”

Ruhe bewahren

So einfach ist das? Meine Tränen versiegen. Oma verabschiedet sich. 100 ist sie letzten Juni geworden. Wie hat sie das geschafft? Bestimmt nicht, indem sie sich ständig hat verrückt machen lassen, sondern eher durch Gelassenheit, Stärke, Zuversicht und gesundem Menschenverstand. Den sollten wir häufiger einschalten – und unsere Erwartungshaltung, dass mehr immer besser ist, zurückschrauben.

Dafür hilft es auch, die sogenannte Vortestwahrscheinlichkeit miteinzubeziehen. “Damit ist die Wahrscheinlichkeit gemeint, dass die Erkrankung vorliegt, bevor ich einen diagnostischen Test durchführe”, erklärt Verena Vogt. In meinem Fall heißt das: Da der Ultraschall keine Auffälligkeiten zeigte und ich keine Risikofaktoren für eine Krebserkrankung mitbringe, ist ein Tumor in meiner Brust so unwahrscheinlich, dass ich keine zusätzlichen Untersuchungen hätte machen müssen, so die Expertin.

Meine Mammografie erbrachte dann auch genau das: nämlich nichts. Von der nächsten “Es könnte sein …”-Diagnose lasse ich mich sicher nicht mehr verunsichern.

Klug entscheiden

Die aus den USA stammende Kampagne “Choosing Wisely” rät dazu, diese Fragen zu stellen:

Brauche ich diese Untersuchung wirklich?

Was passiert, wenn ich nichts tue?

Was sind die Risiken, Nebenwirkungen?

Gibt es Alternativen zurUntersuchung, die einfacher und sicher sind?

Was kostet die Untersuchung, und muss ich sie selbst zahlen?

Heftbox Brigitte Standard

Source: Aktue