Überforderte Mutter: "Da war der Gedanke: Mein drittes Kind ist mir zu viel"

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Als Polizistin und dreifache Mutter konnte Anja Jahnke, 40, irgendwann nicht mehr. Wie sie ihren Perfektionismus abschüttelte und ihr Glück gefunden hat, erzählt sie hier. 

Dem Perfektionismus restlos verfallen, gab ich in meinem Beruf als Polizistin alles. Um Lob und Anerkennung für meine Arbeit zu erhalten, ging ich häufig über meine Grenzen. Gleichzeitig quälte mich die Befürchtung, keine gute Mutter für meine drei Kinder zu sein, denn meine Ressourcen waren und sind begrenzt. Wie die eines jeden Menschen. Als sensibler People Pleaser fiel es mir jedoch  immer schwer, meine Interessen gegenüber anderen zu äußern, vor allem im Dienst. Häufig hörte ich mich “Ja” sagen, obwohl Bauch und zum Schluss auch der Kopf “Nein!” schrien.

Ich fühlte mich als Mutter überfordert

Es stellten sich Unzufriedenheit, Wut und Hilflosigkeit ein, was sich stark auf mein Familienleben auswirkte. Hinzu kam ein klares Gefühl der Überforderung in meiner Mutterrolle. Ich wollte jedem Bedürfnis meiner Kinder gerecht werden und bemerkte nicht, dass ich meine Bedürfnisse dabei aus den Augen verlor. Der Akku war leer.

Irgendwann nahm ich mich nur noch als gefühllose Hülle wahr und der Gedanke kam auf, dass mir mein drittes Kind schlichtweg zu viel ist. Ein Gedanke, den ich lange Zeit mit mir allein herumtrug und der mich in Scham versinken ließ. Ich liebte meinen Sohn, andererseits fragte ich mich immer wieder, ob es ohne ihn und seine Wut auf mich nicht leichter wäre.

Heute danke ich ihm von Herzen für seine Aggressionen gegen mich, denn damit schaffte er das schier Unmögliche. Mit seiner ungehemmten Wut hielt er mir den Spiegel vor – bis ich erkannte, dass nicht er das Problemkind ist, sondern ich mich dringend um mich kümmern musste. Trotz dieser Erkenntnis fiel es mir schwer, ins Handeln zu kommen. Mich nach außen hin zu öffnen, kam für mich nicht infrage, nur mein Mann wusste, dass es mir schlecht ging, dass ich nur noch funktionierte. So tickte die Bombe in mir weiter.

Mein Körper gab mir immer neue, intensivere Warnsignale: Migräne, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, starke Rückenschmerzen. Ich wollte sie aber nicht als solche wahrhaben, schließlich hätte ich mir damit Schwäche oder gar Versagen eingestehen müssen.

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Ich wollte nicht mehr leben

Die Maske der strebsamen Polizeibeamtin aufrechtzuerhalten, kostete mich alle Kraft. Dies entging auch einer Kollegin nicht. Nach meiner letzten Nachtschicht sagte sie, dass sie das Gefühl habe, dass es mir nicht gut geht und dass sie sich sorge. Ich hatte große Angst, dass meine Maske nun heruntergerissen wird. Auf dem Heimweg spürte ich plötzlich das dringende Bedürfnis nach endgültiger Ruhe und der schnellen Lösung aller Probleme. Heute bin ich dankbar und froh, dass mich der Gedanke an meine Familie an jenem Morgen davon abhielt, mein Auto gegen einen Baum zu fahren. Diese Situation rüttelte mich endgültig wach.

In dem Moment, in dem ich meinen Zustand akzeptierte, war ich bereit für Veränderung. Der Schritt zu Fachärzten brachte Klarheit. Diagnose: Akutes Erschöpfungssyndrom und mittelgradige Depression. Wow, das war ein Brett! Ich nahm verschiedene Therapien und Coachings in Anspruch, um mir darüber im Klaren zu werden, wo die Reise hingehen darf. Dabei war es manchmal schwierig, meine neuen Ideen ins Familienleben zu integrieren.

Zukunftsangst entwickelte sich, als mir ein Arzt ein prägendes Bild zeichnete: “Die Aussichten auf Rückkehr in Ihren Beruf in circa zwei Jahren stehen gut. Das wird aber nur gelingen, wenn Sie sich einen Karton auf den Kopf setzen, um nicht nach links und rechts schauen zu können.” Damit meinte er, dass es bei der Polizei strukturelle Probleme gibt, die mir nicht guttun. Es musste ein neuer Lebensentwurf her.

Auf sich selbst zu achten, ist niemals egoistisch

In den letzten Jahren habe ich viel an mir gearbeitet und mir Hilfe geholt. Zwei verschiedene Therapieansätze, einen für den Verstand und einen für das Gefühl, haben mir geholfen, alte Glaubenssätze aufzulösen und mich wieder zu spüren. Ich habe vieles ausprobiert, einen MBSR-Kurs für achtsamkeitsbasierte Stressreduktion absolviert, meditiert, Yoga gemacht und Sport getrieben. Anfang 2023 bin ich ohne Familie für drei Wochen nach Indien gereist und habe Me-Time in einem Ashram verbracht. Begleitet wurde all das vom Tagebuchschreiben, das mir ebenfalls geholfen hat, meine Gedanken zu ordnen.

Seit mir klar wurde, dass ich meinen Beruf als Polizistin nicht mehr ausüben kann, liegt mein Fokus auf den Dingen, die ich mir für meinen neuen Lebensabschnitt wünsche: Arbeiten in Kreativität. Menschen bewegen. Flexibilität und Zeit für die Familie. Unabhängigkeit. Endlich darf ich die Version meines Selbst sein, die glücklich und selbstbestimmt lebt und arbeitet. Seit 2021 bin ich als Schriftstellerin tätig.

Heute weiß ich: Es ist eine Stärke, Schwäche zu zeigen. Das lebe ich auch meinen Kindern vor. Ich habe ein ausgezeichnetes Verhältnis zu mir selbst, meinem Sohn und meiner Rolle als Mutter. Meine Familie hat verstanden, dass das Erfüllen eigener Träume und die Achtung der persönlichen Bedürfnisse und Grenzen der Grundstein für ein gesundes und erfülltes Leben ist. Auf sich selbst zu achten, ist niemals egoistisch. Vielmehr kann ich nur dann für andere da sein, wenn es mir selbst gut geht.

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Ich habe auch ein Buch über meine Erfahrungen geschrieben. Es hat mir nicht nur geholfen, alles zu verarbeiten, es hat mir vor allem gezeigt, dass die Überforderung von Eltern ein Thema ist, das zwar allgegenwärtig, aber dennoch tabuisiert ist. Viele Frauen sprechen von ihrer Angst, als “schlechte Mutter” kritisiert zu werden. Ich verstehe das und kann nur immer wieder sagen: Jede:r hat Phasen, in denen es nicht so läuft und das ist gut so. Wir sollten einander unterstützen, statt unsere Kraft darauf zu verwenden, als perfekte Powerfrau zu gelten. Meist genügt es, wenn eine die Maske fallen lässt. Meiner Erfahrung nach sind dann viele Frauen im Umfeld gelöster und trauen sich, dem Beispiel zu folgen.

Die Autorin: Anja Jahnke arbeitete viele Jahre als Polizistin. Seit 2021 ist sie als Schriftstellerin tätig. Ihre Debüt-Reihe “Liebe rein, Scheiße raus” schloss sie im März 2024 mit Band 3 “Neues Ich, altes Leben” ab. Kürzlich erschien ihr erstes Kinderbuch “Gewittergefühle – Warum immer ich?” über den bestärkenden Umgang mit herausfordernden Emotionen.

Source: Aktue