Ukraine-Krieg: "Wir gaben ihm den Spitznamen Engel"

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In unserer fünfteiligen Serie zum russischen Angriffskrieg kommen fünf Ukrainerinnen zu Wort. Heute: Anastasija Seliwanowa, 11, die sich einen Monat in einem Keller versteckte.

Der 24. Februar sollte ein Tag wie jeder andere werden, nichts kündigte das Unglück an, alles kam plötzlich. Ich wachte von dem Lärm und der Unruhe zu Hause auf. Meine Cousine warf alles in ihren Rucksack, meine Tante, die eigentlich bei der Arbeit sein sollte, war zu Hause. Sie sagte, sie ist nicht bis zu ihrer Arbeitsstelle gekommen, sie hat die Explosionen gehört und ist sofort zu uns gelaufen. Es war nicht klar, was los war, alle saßen vor dem Fernseher und lasen die Nachrichten auf ihren Handys. Im Fernsehen wurde gesagt, man soll zu Hause bleiben, dort, wo es am sichersten ist: im Flur, im Badezimmer oder im Keller. Alles war wie ein böser Traum.

Während der Explosionen saßen wir alle in dem kleinen Flur – ich, meine Cousine, meine Tante, Oma, Uroma und unser Kater Schorik. Meine Tante sagte, wir sollen angezogen auf dem Boden schlafen. Wegen des russischen Angriffs gab es keinen Strom, kein Gas und Wasser mehr. Später, als wir weiter die Explosionen hörten, liefen wir in den Schutzraum, wo wir dann etwa einen Monat lang blieben. Es war die Hölle … Es gab kaum etwas zu essen, über dem Feuer wurde Suppe für uns aus dem Wasser gekocht, das aus den Heizkörpern abgelassen wurde. Wir Kinder bekamen alle nacheinander eine Rotavirus- Infektion.

Aber trotz dieser Umstände hat die Suppe gut geschmeckt. Wegen der ständigen Bombardierungen gingen wir nicht nach draußen. Wir sahen alle blassgelb und schmutzig aus. Aber Artem, Weronika und ich hielten gut durch und spielten sogar Spiele, sangen Lieder, malten, lasen bei Kerzenlicht und konnten uns Fotos auf dem Handy angucken, als es noch aufgeladen war.

Als dann klar wurde, dass wir nicht gerettet werden, weil die Orks (ukrainischer Schmähbegriff für russische Soldaten, Anm. d. Red.) keine Evakuierungsbusse durchließen, begannen die Menschen, wenn es ihnen möglich war, mit ihren Autos wegzufahren. Weil wir kein eigenes Auto hatten, konnten wir nur dasitzen und darauf warten, dass alles vorbeigeht. Außer uns war nur noch eine andere Familie da, die auch kein Auto hatte. Wir waren ohne Hoffnung. Eines Morgens wachten wir auf, als wir eine Stimme hörten, die sagte: “Ich nehme jemanden mit Kindern mit nach Saporischschja.” Meine Tante lief los und verabredete mit dem Mann, dass er uns mitnimmt und dahin bringt, wo wir Bekannte haben, bei denen wir bleiben konnten. In fünf Minuten hatten wir gepackt. Ich, meine Cousine und meine Tante stiegen in das Auto. Ich hatte nicht einmal Zeit, meine Oma zu umarmen, sie konnte meine 92-jährige Uroma nicht zurücklassen, und ich hatte auch keine Zeit, mich von unserem Kater Schorik zu verabschieden. Ich habe ihn nie wieder gesehen, er ist zusammen mit dem Haus meiner Oma und Uroma verbrannt.

Abends kamen wir an, wir waren unter Beschuss gefahren und hatten 18 russische Checkpoints passiert. Jedes Mal hatte ich Angst, dass sie uns nicht durchlassen würden. Aber unser Retter machte uns Mut und beruhigte uns immer wieder. Erst in der Nähe von Wassyliwka, wo wir von der ukrainischen Polizei begleitet wurden, atmeten wir auf. Unser Retter hieß Wjatscheslaw, er wollte seine Eltern holen, kam aber nicht zu ihnen durch und fuhr zu dem ersten Schutzraum, der auf dem Weg lag, und rettete uns. Wir gaben ihm den Spitznamen “Engel”. In Saporischschja blieben wir ein paar Tage, aber weil es in der Ukraine nirgendwo sicher war, fuhren wir weiter nach Polen. Jetzt ist alles gut. Wir sind in Sicherheit. Hier gibt es ein Meer, wie zu Hause in Mariupol, aber ich möchte sehr gern mein Mariupoler Meer sehen. Außerdem haben sie mir die Möglichkeit genommen, meine Mama auf dem Friedhof zu besuchen, die vor zwei Jahren gestorben ist.

Anastasija geht in Gdańsk in die Schule, seit sie mit ihrer Tante und ihrer Cousine dort lebt. Ihr Polnisch wird immer besser. Ihre Tante hat ihr vor ein paar Monaten eine Katze geschenkt. Ihre Uroma Ira ist im August 2023 gestorben. Wenn sie Anastasija angerufen hat, hat sie immer gesagt:”Nastenka, komm nach Hause.”

Das Buch

Buchcover
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Aurélie Bros war nach Kriegsbeginn für ein Hilfsprojekt, mit dem ukrainischen Journalist:innen unterstützt werden, in der Ukraine. Sie bat 38 Frauen, in Briefen von ihrem Alltag ohne Frieden und Sicherheit zu erzählen. Fünf davon geben wir in diesem Dossier in gekürzter Form wieder. Die Fotos machten die Ukrainerinnen Daria Biliak, Kristina Parioti und Anastasia Potapova, die nun in Deutschland leben. Aurélie Bros (Hg.): “Wie ein Lichtstrahl in der Finsternis. Briefe von Frauen aus der Ukraine an die freie Welt” (491 S., 30 Euro, Elisabeth Sandmann Verlag)

Heftbox Brigitte Standard

Source: Aktue