Weibliche Scham: Wir müssen aufhören, uns ständig für alles zu schämen – aber wie?

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Die Wangen rot, der Kopf heiß, der Wunsch: Unsichtbarsein. Das waren Frauen lange genug. Zeit, sichtbar zu werden – und sich von weiblicher Scham zu befreien.

Ich habe mir den Rücken verknackst. In dem Moment, in dem ich meinem kranken Freund eine Teetasse aus dem Schrank holen wollte. Ich kann vor Schmerz kaum atmen, aber für eine Entschuldigung reicht die Luft. “Sorry, geht gleich wieder!”, höre ich mich ihm sagen. Geht’s noch?, will ich mir sagen, während ich mich dafür schäme, dass ich mich schäme und mich auch noch dafür entschuldige. 

Ich schäme und entschuldige mich oft für Dinge, für die ich mich weder schämen, noch entschuldigen sollte. Siehe Schmerzen, ob im Rücken, Kopf oder Unterleib. Das Wort “Scham” wurzelt im indogermanischen “kam”, was soviel wie “verschleiern” bedeutet. Ich begrabe meine defekten Teile – und meine Weiblichkeit, wenn sie im Patriarchat aneckt. 

In ihrem Buch “Sorry not Sorry” beobachtet die Autorin Anika Landsteiner ihre Scham. Selbst als sie mit zwei Zysten – eine davon geplatzt – ins Krankenhaus kommt, geniert sie sich: 

Dafür, dass ich noch immer und trotz der Diagnose meine Schmerzen überprüfe. Sind die legitim? Lieber vorsorglich nebenan klingeln und mich für die Ruhestörung am Sonntagabend entschuldigen! Bin ja nur ’ne Frau, die ein bisschen blutet.

Als Frau wächst man damit auf, sich für den Körperteil, der die Reproduktion unserer Menschheit gewährleistet, zu schämen. Und sich dafür zu entschuldigen. 

Die Gender Shame Gap schützt das Patriarchat

Hinter meiner Scham steckt oft das Ziel, nicht auffallen zu wollen. Keine Umstände zu machen. So wie Frauen es über Jahrhunderte gelernt haben. Ich rufe die Psychologin Tanja Michael an, um mit ihr über meine, unsere, weibliche Scham zu sprechen. Sie erklärt, dass das Gefühl oft anerzogen werde – zum Beispiel, wenn man als Mädchen einer bestimmten Geschlechterrolle nicht entspreche: “Da wir immer noch in einer patriarchalen Gesellschaft leben, werden über Scham auch Verhaltensregeln gegenüber Frauen durchgesetzt. Sei es, weil du falsch angezogen, zu freizügig, nicht freizügig genug, laut, zu leise bist.” 

Schamneigung ist also nicht objektiv. Wofür und wie sehr wir uns schämen, hängt von unseren persönlichen Erfahrungen, unserer Erziehung und Sozialisation ab. Scham ist individuell und doch kollektiv. So schämen sich Frauen tendenziell stärker als Männer, wie eine Studie des Psychologen Dr. Wolfgang Kalbe 2002 zeigte. Haben wir es in unserer Gesellschaft neben Pay, Care und Pain auch mit einer Gender Shame Gap zu tun? 

Scham ist ein wunderbares Mittel, um zu verstecken, dass das vorherrschende Patriarchat für fünfzig Prozent der Weltbevölkerung nicht funktioniert. Sie hält uns schließlich oft davon ab, Gerechtigkeit einzufordern. Sei es, nach mehr Gehalt zu fragen, Care-Arbeit fair aufzuteilen, eine geschlechtersensitive Diagnose zu bekommen oder schlichtweg ernstgenommen zu werden. Alles Dinge, die uns zustehen.

Roter Ratgeber: Die positive Seite der Scham

Wenn wir anfangen zu hinterfragen, wofür wir uns entschuldigen, wofür wir uns schämen, kann unsere permanente Entschuldigung dann nicht zu einem Wegweiser für uns werden? Zu einer Gesellschaft, in der wir einen festen Platz haben, ohne unsere Existenz mit einem “Sorry, darf ich mal” dazwischenzudrängeln.

Da gibt es nur ein klitzekleines Problem: Wenn wir vom Patriarchat für unsere Bedürfnisse beschämt werden, müssen wir zwangsläufig durch die Scham hindurch, um sie zu erfüllen. 

Ich hasse aber Scham. Das Gefühl ist mir so unangenehm, dass ich versuche, es weitgehend zu vermeiden. Also hole ich mir wieder Hilfe bei Frau Michael: “Manche Leute sind schamsensitiver als andere – und da sage ich: das ehrt Sie als Person”, ermutigt sie mich. Na toll. Menschen, die gar keine Scham empfinden, seien schließlich auch nicht die angenehmsten Zeitgenossen, außerdem sei das Gefühl “prosozial” und prinzipiell positiv. Es sei denn, es schränke uns ein. Für Frauen heißt es also: Zeit, unangenehm zu werden. Aber wie?

Wut ist konstruktiver als Scham, wenn es darum geht, Gerechtigkeit einzufordern

Um mich für eine schamfreie Zukunft zu wappnen, reise ich erst einmal in die Vergangenheit. Ich soll mich an meine eigene Kindheit erinnern, sagt die Psychologin: “Wenn einem Kind ein Missgeschick passiert, streichelt man ihm den Kopf, drückt einen Kuss auf die Stirn und sagt: Das ist nicht schlimm, ich hab dich trotzdem lieb.” Das Gegenmittel zur Scham sei Trost. Und das dürfe man sich ruhig altersunabhängig verabreichen: “Man kann lernen, sich als Erwachsene selbst zu trösten, das ist sehr wirksam gegen Scham.” 

Ich will es ausprobieren. Und muss nicht lange warten, bis die Scham anklopft. Vielmehr poltert sie hinein, während ich das nächste Mal beim Arzt sitze.  Ich schäme mich, als ich auf die Frage, was mir fehle, kleinlaut antworte: das Gleiche wie immer. Dafür, immer noch Schmerzen zu haben. Dafür, dass die angeordnete Migräne-Therapie bei mir nicht anschlägt. Dass ich mich mit den Worten “sind halt die Hormone” und dem Ratschlag, “mit dem Kinderkriegen wird’s besser” einfach nicht mehr zufriedengebe. Ich fühle mich penetrant, hypochondrisch und kompliziert.

Ich atme tief ein und denke an Frau Michael. Mir mich als kleines Kind vorzustellen, fühlt sich erst einmal komisch an – und ist mir natürlich unangenehm. Ich tue es trotzdem. Dabei regt sich etwas in mir: Mitgefühl. Und ein klitzekleines bisschen Wut. Ich möchte dem Kind nicht nur über den Kopf streicheln, sondern es an die Hand nehmen und bestärken: Hallo?! Es ist dein gutes Recht, schmerzfrei leben zu wollen. Und dafür kämpfen wir jetzt. Meine Stimme wird fester. Ich schäme mich weniger, dafür bin ich wütend, wofür ich mich später wieder schämen werde, aber in diesem Moment ist es mir egal: Wut ist konstruktiver als Scham, wenn es darum geht, Gerechtigkeit einzufordern.

Geht das gemeinsam nicht viel leichter?

Die Methode entfaltet eine Wirkung, die ich bereits aus anderen Situationen kenne: Betrachten wir Gefühle getrennt von uns und bei anderen, sind wir viel gütiger.

Ist eine Freundin traurig, tröste ich sie. Wird sie schlecht behandelt, stehe ich ihr bei. 

Wenn wir uns das nächste Mal schämen, weil wir in unserer Geschlechterrolle anecken – weil wir bluten, emotional und wütend sind, mehr Geld fordern – lasst uns diese Scham aussprechen. Nicht nur unserem inneren Kind, sondern auch unseren Freundinnen gegenüber. Und dann streicheln wir uns ein wenig verlegen die Köpfe, um uns bereit zu machen, der Scham den Kampf anzusagen – gemeinsam.

Source: Aktue