"Wenn man das erzählt, knallt die Welt auseinander": Warum Kinder oft schweigen, wenn ihnen Schlimmes widerfährt

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Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen findet sehr häufig – aber nicht nur – innerhalb der eigenen Familie statt. Die Einblicke, die uns Tanja von Bodelschwingh in ihre Arbeit bei N.I.N.A. e. V. und am Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch gibt, machen einmal mehr das Machtgefälle zwischen Kindern und ihren Eltern deutlich. Aber auch, was wir tun können, um unsere Kinder zu stärken und schützen. 

Triggerwarnung: Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen

Aufstehen, frühstücken, Kita oder Schule, Hausaufgaben, ein bisschen spielen, vielleicht zum Sportverein, Abendessen, Gute-Nacht-Geschichte, schlafen gehen. Ein ziemlich normaler Tag für Kinder. Und bei manchen kommt Papa nachts noch mal ins Zimmer…

Sexualisierte Gewalt in der Familie sieht man nicht, und man sieht sie den Familien nicht an. Sie ist vielschichtig, perfide, bedrohlich, angepasst, manipulativ. Sie wohnt genauso oft im Einfamilienhaus wie in der Sozialwohnung. Für betroffene Kinder ist sie vielfach absurde Normalität – bis sie irgendwann merken, dass andere Kinder andere Erfahrungen machen. Dass es vielleicht doch gar nicht so normal ist, was der nette Onkel, mit dem man die tollen Ausflüge macht, als Gegenleistung verlangt. Dass es nicht normal ist, sich anfassen lassen zu müssen, weil sonst der Papa böse wird. Dass es nicht normal ist, etwas leisten zu müssen, das man nicht möchte, und im Gegenzug mit schönen Geschenken bezahlt zu werden. Bis man irgendwann weiß, woher das unangenehme Gefühl stammt, das sich schon ganz früh breit macht. Die Ahnung, die schon die Kleinsten haben. Und dann, wenn man merkt, was passiert, wenn man Worte für das Erlebte findet, ist der Preis für das Ende des Leides manchmal die einzige Familie, die man hat.

Sexualisierte Gewalt erfahren Kinder und Jugendliche meist in der Familie

Laut UBSKM (Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs) wurden im Jahr 2022  in Deutschland rund 15.500 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch angezeigt. Das Dunkelfeld ist aber um ein Vielfaches größer. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass bis zu eine Million Kinder und Jugendliche in Deutschland bereits sexuelle Gewalt durch Erwachsene erfahren mussten oder erfahren. Das sind rund ein bis zwei Kinder in jeder Schulklasse. Viele dieser Fälle werden nie zur Anzeige gebracht und gehen daher nicht in die Kriminalstatistik ein.

Sexualisierte Gewalt geschieht am häufigsten dort, wo sich Kinder sicher fühlen sollten: innerhalb der Kernfamilie (ca. 25 Prozent). Dicht gefolgt vom engsten sozialen Umfeld und dem weiteren Familien- und Bekanntenkreis, wie Nachbarn oder Personen aus Einrichtungen oder Vereinen, die die Kinder und Jugendlichen gut kennen (ca. 50 Prozent). Sexualisierte Gewalt zieht sich durch alle gesellschaftlichen Schichten, durch alle Familienkonstellationen. Sie hat viele Gesichter, mit denen sie auftritt: als sexuelle Grenzverletzungen, sexuelle Übergriffe, verbale Grenzverletzungen, Handlungen vor Kindern, bis hin zu Aufforderungen, bei sexuellen Handlungen mitzumachen, und solchen, die an den Kindern verübt werden, erzählt Tanja von Bodelschwingh von N.I.N.A. e. V. – der Nationalen Informations- und Beratungsstelle bei sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend. Die Sozialpädagogin berät und unterstützt seit etwa 15 Jahren Menschen zu diesem Thema. Der Verein N.I.N.A. ist unter anderem Träger des bundesweiten “Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch”.

Die Formen des Missbrauchs sind vielfältig

Das enorme Machtgefälle zwischen Eltern und Kindern gibt Tätern und Täterinnen einen großen Spielraum für verschiedenste Manipulationen. Ihr Werkzeugkoffer ist prall gefüllt: Verwirrung der Gefühle, Manipulation der Wahrnehmung, Ausübung von Druck, Angstmachen, Geheimhaltungsgebote, bis hin zu totaler Isolation, so dass das Kind von potenziell helfenden Institutionen, Vereinen, Hobbys sowie anderen Kontakten und Familien ferngehalten wird. Sehr viele Täter:innen bauen eine besondere Vertrauensbeziehung auf. So, dass betroffene Kinder vielleicht sogar von ihren Geschwistern abgelehnt werden, weil sie immer im Mittelpunkt stehen und vordergründig nur Gutes erfahren. Auch das ist ein häufiges Vorgehen, von dem Betroffene Tanja von Bodelschwingh in der Beratung am Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch berichten. 

Gerade jüngere Kinder merken zwar, dass sich da was nicht richtig anfühlt und dass da irgendwas nicht stimmt, aber erkennen vielleicht erst bei der ersten Präventionsveranstaltung im Kindergarten oder in der Schule, dass ihnen etwas passiert, was anderen Kindern nicht passiert.

Manche Eltern wissen nicht, was ihren Kindern angetan wird, andere sind die Täter:innen

Wir sprechen in diesem Text viel von Vätern und Onkeln, Männern und Tätern. Das hat einen Grund: In 80 bis 90 Prozent der Fälle sind die Täter männliche Vertrauenspersonen: der Vater, der Opa, der Onkel oder der Cousin. In 10 bis 25 Prozent der Fälle findet sexueller Missbrauch durch Frauen und weibliche Jugendliche statt. Nicht selten bekommt es niemand mit. 

“Viele betroffene Jugendliche sagen, ihre Eltern wissen das gar nicht, auch ihre Geschwister haben nichts mitbekommen. Mitunter ist aber auch total klar, dass die Geschwister das Gleiche erlebt haben, oder die Mutter mitgemacht hat”, erklärt Tanja von Bodelschwingh. “Manchmal war es auch die Mutter, und der Vater hat das toleriert. Von ‘Ich glaube, meine Eltern haben wirklich nichts mitbekommen’ bis hin zu ‘Sie wussten es, aber niemand hat geholfen’ gibt es alles. Sämtliche Konstellationen sind denkbar, oft auch über Generationen hinweg.”

Gibt es Anzeichen für sexuellen Missbrauch?

Passiert der sexuelle Missbrauch innerhalb der Kernfamilie, ist es sehr schwierig, darauf aufmerksam zu werden. Vor allem dann, wenn es innerhalb der Familie geduldet wird und niemand wirklich hinschauen möchte. Es gebe keine Symptome, die untrüglich auf sexualisierte Gewalt hinweisen, außer Kinder sprechen es konkret aus, so die Sozialpädagogin. Allerdings gebe es sehr wohl Anzeichen, die ernst zu nehmen sind – beispielsweise, wenn Kinder sich in ihrem Verhalten massiv verändern.

Manche werden plötzlich ganz still und ziehen sich zurück, andere werden vielleicht aggressiv, laut und aufbrausend. Wenn sich ein Kind in seinem Verhalten stark verändert, dann sei es wichtig, auch sexualisierte Gewalt nicht auszuschließen. Ebenso wenn Kinder formulieren, irgendwo nicht mehr so gerne hinzuwollen, aber vielleicht keinen Grund dafür nennen, appelliert die Expertin an die Eltern, diesen Wunsch ernst zu nehmen und nicht darüber hinwegzugehen, sondern wirklich hinzuhören und zu zeigen: Egal, was ist, ich bin da. Auffällig ist auch, wenn sich Kinder auf einmal in einer Weise sexualisiert verhalten, die nicht zu ihrem Alter passt. Wenn sie beispielsweise Erwachsenen-Sexualität nachahmen, also weit weg vom altersgerechten, spielerischen Körpererkunden, oder sich gegenüber anderen Kindern selbst massiv körperlich grenzüberschreitend verhalten. Das sei auf jeden Fall etwas, wo man hinschauen muss, erklärt Tanja von Bodelschwingh. Verletzungen im Intimbereich seien zwar seltener der Fall, aber natürlich auch ein Anzeichen.

Was, wenn ich einen Verdacht habe?

Vielleicht verhält sich die Freundin des Kindes merkwürdig, vielleicht erzählt sie auch, was ihr passiert ist. Aber was tut man in einer solchen Situation? Tanja von Bodelschwingh hat einen Rat:

Wichtig ist, darüber nicht hinwegzugehen. Je nachdem, wie die Situation ist, kann unterschiedliches Verhalten richtig sein. Hauptsache, betroffene Kinder und Jugendliche finden einen Raum, wo sie sagen können, was ihnen passiert oder wo sie zumindest das Gefühl kriegen, jemand hat wahrgenommen, dass mit mir irgendwas nicht gut ist. Selbst wenn Kinder dann vielleicht nicht sprechen, ist das für sie total wertvoll. Es gibt viele betroffene Erwachsene, mit denen wir telefonieren, die sagen ‘Ja, ich habe darüber nie mit jemandem gesprochen. Aber es gab eine Lehrerin, die hat mir einmal gesagt, dass ich zu ihr kommen könnte, und das war sehr hilfreich’.”

Doch niemand muss eine solche Situation allein bewältigen. Die Empfehlung der Expertin ist, bei einem komischen Gefühl, einer Vermutung oder einem konkreten Verdacht bedacht und ruhig zu reagieren und nicht überstürzt oder im Alleingang zu handeln. Eine spezialisierte Beratungsstelle hilft dabei, die Möglichkeiten, das weitere Vorgehen und vor allem auch die eigene Rolle und die eigenen Grenzen abzuwägen und zu besprechen.

Bitte auf keinen Fall vorschnell die mutmaßliche Tatperson konfrontieren

Solange das Kind nicht geschützt ist, können Täter und Täterinnen bei einer Konfrontation den (Geheimhaltungs-)Druck auf das Kind erheblich erhöhen. Überforderung und Angst führen dann häufig dazu, dass das betroffene Kind eigene Aussagen wieder relativiert oder zurücknimmt und sagt “Nein, Quatsch, das habe ich mir ja nur ausgedacht.” Kenne ich die Familie gar nicht, und mir fallen Dinge auf, die seltsam sind, kann ich mich auch direkt an das Jugendamt wenden. Aber auch hier ist es ein guter Weg, eine Fachberatungsstelle dazwischenzuschalten, weil man dann professionelle Beraterinnen an der Hand hat, die genau mit einem überlegen können: Was macht jetzt in dieser Situation und in dem speziellen Fall am meisten Sinn?

“Was passiert mit mir, wenn ich das erzähle?”

Je früher Kinder mit präventiven Angeboten in Kontakt kommen, desto eher besteht die Chance, dass sie das, was sie erleben, einordnen können, wo sie sagen können: “Das ist mir auch passiert.” Aber selbst, wenn sie den Schritt wagen, sei es für Kinder, die sexualisierte Gewalt innerhalb der Familie erleben, sehr schwer, erklärt Tanja von Bodelschwingh. Da ist eine riesengroße Scham, und oft fühlen sich betroffene Kinder selbst schuldig. Hinzu kommt die Sorge: Was passiert, wenn ich das sage? Was passiert dann mit mir? Kann ich zu Hause wohnen bleiben? Was passiert mit dem Täter oder der Täterin? Sind dann alle sauer auf mich? Hassen mich dann alle? Den Kindern sei häufig sehr bewusst, dass sie mit dem Lüften des Geheimnisses das bestehende Familiensystem sprengen, klärt Tanja von Boldelschwingh auf:

Wenn in der Familie Missbrauch passiert, dann ist da häufig nichts, was bleibt. Und das Schlimme ist, dass mitunter tatsächlich alles so eintritt, wie es befürchtet wurde. Man glaubt ihnen nicht. Man gibt ihnen eine Mitschuld oder Mitverantwortung. Elternteile sind auf einmal total sauer auf ihre Kinder, weil sie behaupten, dass Papa oder Opa so was machen. Da sind oft eine große Abwehr, ein großes Nicht-hinschauen-Wollen und ein großes Sich-nicht-vorstellen-Können.

Was wir tun können

Deshalb sei es so wichtig, dass Eltern wirklich hinhören, wirklich glauben, wenn ihnen ihr Kind etwas anvertraut, ihre Kinder ernst nehmen und aufmerksam sind, betont Tanja von Bodelschwingh. Und gleichzeitig brauchen wir noch mehr Präventionsarbeit. Menschen in den Institutionen, die geschult sind, Raum und Angebote für Kinder, die niedrigschwellig die Möglichkeit bieten, sagen zu können, was ihnen widerfahren ist, und eine Begleitung ins Leben, die die ganz persönlichen Grenzen von Kindern wahrt, statt darüber hinwegzugehen, wie es beispielsweise in der Elterngeneration noch sehr häufig der Fall war. “Entschuldige dich jetzt”, “Hab dich nicht so, zieh dich jetzt schnell einfach hier um” oder “Gib doch Onkel Dieter zu Begrüßung mal ein Küsschen”, sind Sätze, die sehr viele Erwachsene in ihrer Kindheit gehört haben, und mit denen sie noch heute ein großes Unbehagen verbinden.

Wir brauchen keine perfekten Eltern, aber solche, die reflektieren und aufgeklärt sind, die zuhören, hinsehen und ihre Kinder ernst nehmen. Denn die Grundlage zum Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt ist, ihnen ihr Recht an ihrem eigenen Körper zuzugestehen und ihre eigenen Grenzen zu respektieren.

Tanja von Bodelschwingh
© Barbara Dietl

Tanja v. Bodelschwingh vom N.I.N.A. e. V. arbeitet seit mehr als 15 Jahren zum Thema sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend. Sie ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied und leitet die Online-Beratung des bundesweiten, anonymen und kostenfreien “Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch“. Das Hilfsangebot ist Teil der Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne “Schieb deine Verantwortung nicht weg!” der Bundesregierung.

Infobox: Sexueller Missbrauch

Quelle: beauftragte-missbrauch.de

Source: Aktue