Witwe mit 42: "Wenn man den Mut hat, sich mit dem Tod zu befassen, kann man mit Leichtigkeit belohnt werden."

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Anne Göstemeyer ist Ärztin, zweifache Mama, alleinerziehend und Witwe. An einem Morgen im August stirbt plötzlich ihr Mann. Anne ist zu dem Zeitpunkt 42 Jahre alt, die Kinder 1 und 3. Im Gespräch erzählt sie von der Trauer, davon, was geholfen hat und warum sie den Begriff “Witwe” furchtbar findet.

Dreieinhalb Jahre ist Torstens Tod jetzt her. Der Schmerz über den Verlust ihrer großen Liebe nicht kleiner, aber anders. Anne hat in den letzten 41 Monaten viel über sich, das Leben, die Liebe, den Tod und die Trauer gelernt. Sie will teilen, was ihr geholfen hat, und über das sprechen, worüber die meisten lieber schweigen.

42 Jahre alt, Witwe und Stiefmutter

Alt, traurig, immer schwarz gekleidet – Eigenschaften, die mir sofort in den Kopf kommen, wenn das Wort “Witwe” fällt. Anne ist nichts davon. Vor mir sitzt eine selbstbewusste, energische Frau. Sie trägt einen neonpinken Pullover und knallroten Lippenstift.

“Ich hasse dieses Wort so sehr”, sagt sie. “Ich bin Witwe und Stiefmutter. Da denkt man doch gleich an eine fiese Alte aus dem Märchen mit einer Warze auf der Nase.” Mit dem Witwendasein könne sie sich gar nicht identifizieren, aber teilweise wurde genau das von ihr erwartet. Einsam, zurückgezogen leben, regelmäßig auf den Friedhof gehen, viel weinen. Anne will weder so sein, noch dem entsprechen. Denn einen Parameter erfüllt sie nicht: Sie ist nicht alt. Sie ist eine junge Witwe, berufstätig und alleinerziehend. Auf sie wartet noch ein Leben, sagt sie. Traurig ist sie trotzdem. Als sie mir erzählt, was passiert ist, weint sie. Und gleichzeitig spürt man ihre Lebensfreude und Willensstärke.

Für die Welt brechen ungewisse Zeiten an, für Anne bricht sie auseinander

Anne und Torsten lernen sich 2010 bei der Arbeit kennen. Beide sind Ärzt:innen an der Charité in Berlin. Beide stecken noch in unglücklichen Beziehungen. Anne damals mit ihrem Exfreund, Torsten mit seiner Expartnerin und den gemeinsamen Kindern. Es dauert, bis die beiden 2012 zueinander finden, aber ab dann sind sie glücklich, bekommen bald auch gemeinsame Kinder. “Natürlich gab es auch Schwierigkeiten, als Patchwork Family bleibt das nicht aus, aber letzten Endes war alles sehr schön.” 

2020 ändert sich das. Dass immer mal wieder ein Virus kursiert, kennen die beiden aus ihrem Berufsalltag, doch dieses ist anders. “Das ist ernst. Das hört sich nicht gut an”, sagt Torsten zu Anne und auch sie merkt, wie die Angst in sie hineinkriecht. 

Für die ganze Welt brechen jetzt ungewisse Zeiten an. Im März 2020 infizieren sich beide mit Covid-19. Noch vor allen Lockdowns, Impfstoffen, Maskenpflichten und Schnelltests. Sie gehören damit zur ersten Corona-Infektionswelle. Angesteckt hatte sich Torsten vermutlich auf der Intensivstation, auf der er arbeitete. 

“Wir waren 14 Tage in richtiger Quarantäne – mit zwei kleinen Babys. Das Gesundheitsamt hat uns regelmäßig angerufen. Wir mussten uns das Essen vor die Tür stellen lassen und durften nicht mal zum Briefkasten gehen. Damals dachte man noch, man könne den Ausbruch der Krankheit so verhindern.”

Obwohl er sich nicht gut fühlte, immer noch Fieber hatte, schlecht aussieht und sehr schnell erschöpft ist, geht Torsten nach den zwei Wochen wieder arbeiten. Die Krankenhäuser platzen aus allen Nähten, auf der Welt herrscht Ausnahmezustand. Pandemie. Wochen vergehen, werden zu Monaten, aber Torsten geht es nicht besser. Anne drängt ihn, zum Arzt zu gehen. Torstens Antwort: Er sei selbst Arzt und was solle der auch machen? Im Nachhinein wird sich herausstellen, dass die Covid-Infektion sein Herz angegriffen hat. Wahrscheinlich hätte ihn nur eine Herztransplantation retten können. Und die sei, so erklärt Anne, vermutlich nicht rechtzeitig realisierbar gewesen.

“Die Vögel haben gezwitschert und ich stand neben meinem toten Mann.”

 “Anne, komm sofort her. Torsten liegt leblos auf dem Balkon.” Es ist der 23. August als ihre Schwiegermutter, die gerade zu Besuch ist, Anne morgens um 6 Uhr aus dem Schlaf reißt. Als sie ihren Mann sieht, weiß sie sofort, dass er tot ist. An diesem Tag endet sein Leben – und Annes.

An das, was danach kommt, kann sich Anne nur noch in Fetzen erinnern. Sie steht unter Schock. 

“Es ist ja auch nicht so, als ob eine Sirene angeht und der Himmel einstürzt. Ich stand da und da war nichts. Die Vögel haben gezwitschert und ich stand neben meinem toten Mann.” 

Es fällt ihr schwer, in Worte zu fassen, was sie gefühlt hat. Es sei ein unaushaltbarer körperlicher Schmerz gewesen. Sie konnte nicht atmen. Alles Licht war aus. Alles, was sie vorher hatte, sei innerhalb von Sekunden vorbei gewesen. 

“In dem Moment war mein Leben vorbei. Und ich revidiere das nicht, weil das stimmt. Aber es kam danach ein Neues.”

Wochen im Nebel

Die Wochen danach liegen im Nebel. Vierundzwanzig Stunden am Tag ist jemand bei Anne. Ihre Freund:innen wechseln sich ab, während sie verzweifelt mit dem Leben ringt: “Das ist so schmerzhaft, man kann es nicht beschreiben. Wenn du es mal kurz vergisst, musst du dich sofort wieder dran erinnern. Und jedes Mal tut es wieder neu weh. Irgendwann konnte ich nicht mehr. Es ist so anstrengend. Ich konnte nicht schlafen. Ich konnte nicht essen. Ich konnte mich nicht ausruhen. Ich konnte aber auch nicht dasitzen und nichts machen. Eigentlich wäre es am besten gewesen, wenn einfach mal jemand gesagt hätte: Hier, nimm die Tablette, um mal zur Ruhe zu kommen. Aber dafür muss man zum Psychiater und die Kraft, mich durch das Telefonbuch zu telefonieren, die hatte ich nicht.”

“Man muss Menschen beibringen mit Trauernden umzugehen”

Die ersten drei Monate nach Torstens Tod waren die Hölle. Rückblickend kann sich Anne nur noch bruchstückhaft an diese Zeit erinnern. Das Schlimme sei, “dass man sich selbst in dieser Situation noch nicht kennt. Ich hatte Angst vor mir selbst und dass ich auf die Kinder nicht aufpassen kann. Dass etwas mit den beiden ist oder sie mir weggenommen werden, weil ich nicht in der Lage bin, mich zu kümmern.” Deswegen war immer jemand bei ihr. Immer. Auch nachts.

Viele Hilfsangebote, die sie nach dem Tod ihres Mannes angeboten bekommen habe, hätten für sie nicht funktioniert. Da kam oft: “Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst”, aber wenn sie das mal gemacht habe, hat es dann oft nicht gepasst. 

Einfach nur da sein

“Am hilfreichsten war, wenn jemand einfach gekocht, geputzt, die Formulare ausgefüllt hat und immer, wenn ich geweint habe, gekommen ist und mich in den Arm genommen hat. Wenn ich reden wollte, habe ich schon geredet. Man muss gar nicht viel machen. Nur da sein.”

Man müsse den Menschen beibringen mit Trauernden umzugehen. Man darf sie ansprechen. Man darf fragen. Der Mensch, der trauert, sagt schon, wenn es zu viel ist. Zu schweigen ist viel schlimmer. “Aber das wissen viele nicht, woher auch? Das lernt man erst dann, wenn es so weit ist.”

Einen kleinen Teil der Trauer mittragen

Leichter machen, könne es niemand. Es sei eher so, dass die, die da sind, einen Teil der Trauer in dem Moment mittrügen und aushalten müssten, diese Menschen, die man so liebt, in so unglaublichem Schmerz zu sehen. Aber das sei, aus Annes Perspektive, die Aufgabe, trotzdem vorbei zu kommen, auch wenn es schwer ist, weil man einen kleinen Teil der Trauer miterlebe. Die eigene Begegnung mit dem Thema Tod und Schmerz sei für viele nur schwer zu ertragen, weil es die Tatsache vor Augen führt, vor der wir lieber die Augen verschließen: Dass wir alle eines Tages sterben müssen. 

Ein Auffangnetz spannen

In den kommenden Monaten baut sich Anne ein Netz aus Menschen auf, die sich mit ihrer Situation auskennen, die ihr erklären können, was mit ihr los ist und wie man das überlebt. “Es waren die einzigen Menschen, denen ich geglaubt habe. Woher soll mein Umfeld denn wissen, wie so was funktioniert?” 

Sie findet über ihre Frauenärztin eine Therapeutin, über eine Bekannte einen Psychiater, der ihr zuhört und der die richtigen Medikamente verschreibt, psychologische Unterstützung für den Umgang mit den Kindern und eine Trauergruppe von Betroffenen, die Ähnliches erlebt haben und die ähnlich alt sind: Dem Young Widow:ers Dinner Club. 

Nach dem Tod kommt ein neues Leben

Der Young Widow:ers Dinner Club (YWDC) ist keine typische Trauergruppe; kein Sitzkreis, kein schaler Kaffee, keine erdrückend traurige Stimmung. Hier darf alles sein. Der YWDC wurde ursprünglich in Wien gegründet. Ein paar jüngere Trauernde sind im Anschluss an eine Selbsthilfegruppe immer noch etwas trinken und Essen gegangen. Als die Selbsthilfegruppe sich dann auflöste, wurde das gemeinsame Essen beibehalten und der YWDC gegründet, der sehr schnell gewachsen ist. Er richtet sich ausschließlich an jung verwitwete Menschen zwischen 20 und 50 Jahren. 

Anne hört das erste Mal bei einer Telefonseelsorge von dieser Gruppe. Dort hinzugehen, kostet sie einige Überwindung, aber hier findet sie schließlich das, was sie bei ihren Freund:innen nicht finden kann: Menschen, die Ähnliches erlebt haben, und eine andere Ebene des Verständnisses, die nur die haben können, die durch das gleiche gehen mussten, wie sie selbst.

“Wir haben gelacht und geweint, wir haben krasse Geschichten erzählt, wir haben Witze gemacht, die du nur hier machen kannst. Du darfst alle Fragen stellen. Es gibt keine Tabus. Hier kommen Menschen zusammen, die in unterschiedlichen Trauerphasen stecken. Du kannst sehen, wie sich Dinge entwickeln, wie deine eigene Perspektive sein kann. Ich habe vorher immer das Gefühl gehabt, nur ich habe diese schlimme Geschichte, aber dort haben alle so schlimme Geschichten.” 

Mittlerweile organisiert Anne gemeinsam mit zwei anderen Frauen die Treffen in Berlin. Einmal im Monat treffen sie sich in einem Restaurant. Aktuell kommt ein Kern von fünf Leuten und immer mal wieder wer dazu. Im Sommer sind die Treffen erfahrungsgemäß viel größer, jetzt befinden sich alle in einer Art Winterschlaf, erzählt Anne. Beim Young Widow:ers Dinner Club ist jede:r willkommen. Nur bei der Altersgrenze sind sie sehr streng. Warum, will ich wissen.

Viele, die zum YWDC kommen, seien zwischen 20 und 30. Die haben noch ein ganz neues Leben vor sich. Meist kommt irgendwann ein:e neue:r Partner:in, Kinder, eine neue Liebe. Es sei eine ganz andere Lebensrealität, wenn der Partner im Alter von 80 Jahren sterbe, als mit Mitte 20 oder auch mit Ende 40, erklärt sie.

Wieder glücklich werden?

Auch für Anne gibt es das andere, neue Leben. Nach Torstens Tod hat sich der Blick auf ihr eigenes Leben verändert. “Ich möchte jetzt viel mehr glücklich werden als früher.” Früher bezog sich dieses Glücklichsein für sie auf ein Haus, eine gute Rente, ab und an schöne Urlaube – was man so vom Leben erwarte, sagt sie, und das habe sie bis dahin auch nie hinterfragt. “Die große Kraft, die ich aus meiner Geschichte ziehen kann, ist, das zu machen, was mich jetzt glücklich macht, statt mich immer mit der Zukunft zu befassen. Wenn der Job nervt, kündige. Wenn du unglücklich bist, ändere was. Wir tun immer so, als würden wir ewig leben, aber niemand weiß, wie lange das tatsächlich ist.”

“Du bist nicht mein Freund, aber ich akzeptiere, dass du da bist.”

Betrachtet man die Trauerphasen nach dem Modell von Elisabeth Kübler-Ross, sei sie mittlerweile in der letzten Phase angekommen: Akzeptanz. Sie habe dem Tod die Hand gereicht. “Du bist echt nicht mein Freund, ich finde dich richtig scheiße, aber ich akzeptiere, dass du da bist. Und jetzt zeige ich dir noch mal die lange Nase und mache was richtig Geiles aus meinem Leben.”

Es gäbe viele Momente, in denen es Anne richtig schlecht gehe, aber inzwischen auch wieder die, in denen sie glücklich ist und lachen kann. Es sind die kleinen Dinge, über die sie sich viel mehr freuen kann. Wie wir leben wollen, sei unsere Entscheidung.

“Wenn man den Mut aufbringt, in das Thema Sterblichkeit einzutauchen, was sicherlich auch schmerzhaft sein kann und anstrengend, dann kann man als Belohnung eine gewisse Leichtigkeit bekommen, die sich ab und zu zeigt und das Leben vielleicht ein bisschen schöner und vor allen Dingen abwechslungsreicher macht.”

Anne-Katrin Göstemeyer lebt mit ihren beiden Kindern in Berlin und ist Fachärztin für Rheumatologie an der Charité. Gemeinsam mit zwei anderen Frauen organisiert sie außerdem die Treffen des Young Widow:ers Dinner Club in Berlin. Ursprünglich aus Wien stammend, gibt es mittlerweile Treffen in vielen deutschen Städten. Mehr Informationen findest du auf der Website des YWDC.

Source: Aktue