Zeit rast?: Was Menschen anders machen, deren Leben ihnen nicht davonläuft

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Silvester, Geburtstag, schon wieder ein Weihnachten. Dazwischen rennt die Zeit gefühlt für viele Menschen mit zunehmender Geschwindigkeit davon. Woran liegt das? Was können wir tun, um Schritt zu halten? Damit beschäftigen wir uns hier.

2024. Für einige Menschen heißt das: Schon wieder fünf Jahre rum. Für andere sind es eher zehn und für manche 20. In einem sind sich die meisten aber einig, wenn sie auf die letzten paar Jahre zurückblicken: Das ging jetzt doch ziemlich schnell. 

Zwischen unserer subjektiven Wahrnehmung und objektiv gemessener Zeit besteht in verschiedener Hinsicht eine Diskrepanz. Zum Beispiel sagen viele Menschen von sich, dass sie sich nicht so alt fühlen, wie sie sind, nicht wie 40, 50, 60 oder 102. Doch was könnte eine Angabe einer Zeitspanne schon darüber aussagen, wie sich ein Mensch fühlt, der bereits für diese Zeitspanne gelebt hat? Wenn eine Person sagt, dass sie sich nicht wie 40 oder 102 fühlt, meint sie eigentlich, dass sie sich anders vorgestellt hat, wie es ist, so alt zu sein. Was aber wiederum heißt, dass sie keine zutreffende Vorstellung davon hatte, was es bedeutet, 40 oder 102 Jahre zu leben.

Daran sehen wir schon: Unsere Zeitaufteilung und -messung bietet uns zwar die Möglichkeit, uns zu verabreden, zusammenzuarbeiten, einkaufen zu gehen und uns gemeinsam zu organisieren. Unser Leben können wir damit hingegen nur bedingt bemessen. Um unser persönliches Zeitgefühl und unsere subjektive Zeitwahrnehmung zu beobachten, können Kalender, Stunden und Silvesterfeiern wiederum überaus nützlich sein  – selbst wenn wir dabei regelmäßig denken, es müsse ein Irrtum vorliegen.

Wie messen wir subjektiv Zeit?

Hätten wir keine Uhren und Silvesterverabredungen, würden wir Zeit einerseits an Veränderungen in unserer Umgebung messen, vor allem aber an Signalen unseres eigenen Organismus: Hunger, Durst, Atmung, Müdigkeit, Verdauung, emotionale Impulse wie Unruhe, Angst, Lust. “Das interozeptive System, einschließlich der Inselrinde, vermittelt einen Eindruck von unserem internen organischen Zustand – davon, wie wir uns fühlen. Untersuchungen mit der fMRI Hirnscan-Methode haben gezeigt, dass die Inselrinde die wichtigste Hirnregion ist, wenn es darum geht, Zeitspannen einzuschätzen”, schreibt der Psychologe Marc Wittman in einem Artikel für “Psychology Today”. Je intensiver und aufmerksamer wir unseren Körper oder ein Gefühl erleben, desto länger erscheine uns der Moment dieses Erlebnisses – währenddessen und später im Rückblick. Dass wir unseren Alltag weitestgehend an Uhrzeiten und Terminen ausrichten und dabei selten bewusst auf unseren organischen Rhythmus achtgeben, kann somit eher zu dem Eindruck beitragen, dass uns die Zeit mitunter davonrennt. Doch das ist noch nicht alles.

“Über den Daumen können wir sagen: Je mehr Veränderung und Abwechslung wir in einer Zeitspanne erfahren, umso länger erscheint sie uns später subjektiv im Rückblick”, schreibt Marc Wittman. Neue Erlebnisse, Aufregung, erste Male – solche Lebenserfahrungen lösen intensive Emotionen in uns aus, fordern uns und füllen unser Gedächtnis. Über eine Woche Urlaub, in der wir alte Schlösser besichtigt, Sonnenuntergänge genossen, Hügel bestiegen haben, können wir noch Jahre später Seiten voll schreiben oder abendfüllende Geschichten erzählen. Eine routinierte Alltagswoche hingegen, die sich allenfalls geringfügig von 80 Prozent der Wochen in unserem Leben unterscheidet, hinterlässt einen weitaus kleineren bleibenden Eindruck in unserem Gedächtnis. In unserer persönlichen Zeitwahrnehmung stellt sie sich uns deshalb als sehr kurze, nahezu leere, kaum existente Zeitspanne dar. Obwohl sie objektiv die gleichen 168 Stunden währte wie unsere abwechslungsreiche, intensive Urlaubswoche.

Aus diesem Grund nehme laut Marc Wittman das Gefühl der davonrasenden Zeit bei den meisten Menschen mit dem Alter zu: Während wir als Kind die Welt ganz neu entdecken und fast jeden Tag ein erstes Mal erleben, werden wir mit wachsendem Erfahrungsschatz abgebrühter, schwerer zu begeistern, aufzuregen und zu überraschen. Das hat etwas Angenehmes. Aber es lässt eben zwischen zwei Silvesterpartys manchmal gefühlt nur eine Woche vergehen.

Wird jedes Lebensjahr ohne aufregende Zwischenfälle zwingend für uns kürzer?

Auf der einen Seite können wir nun sagen: Es ist eben, wie es ist. Wir werden älter, haben irgendwann begriffen, dass nach einem Regenfall Pfützen auf dem Gehweg stehen, beginnen jeden Tag um 7, 8 oder 9 Uhr mit der Arbeit und sind doch meistens eher froh, wenn nichts passiert, das unsere Alltagsroutine durcheinanderbringt. Wenn das zur Folge hat, dass uns fünf Jahre kurz vorkommen – was macht das schon, aus Sicht der Sonne sind sie es schließlich. Auf der anderen Seite erschrecken wir uns nicht umsonst, wenn plötzlich eine 2024 über dem Jahreshoroskop steht. Wenn es schon fast fünf Jahre her ist, dass wir aus Stoffresten genähte Masken in der Schneiderei gekauft und uns höchstens zu zweit im Freien getroffen haben. Und dass wir uns erschrecken, zeigt uns, dass für unser Empfinden etwas nicht stimmt. Dass wir vielleicht zu wenig erlebt haben für die Zeit, die vergangen und von unserem persönlichen Konto abgezogen ist. Doch wie können wir mehr erleben, ohne dafür unser ganzes Leben umzustellen?

Laut Marc Wittman kann bereits ein achtsamerer Umgang mit den eigenen Emotionen einen Einfluss auf unsere subjektive Zeitwahrnehmung nehmen. So habe zum Beispiel eine seiner Studien aus dem Jahr 2015 gezeigt, dass Menschen, die regelmäßig meditieren, Momente intensiver erleben und Zeit generell als länger und erfüllter empfinden als andere. In einer späteren Untersuchung beobachteten er und sein Team das gleiche Phänomen bei Personen, die zwar nicht meditierten, dafür aber insgesamt einen reflektierten, aufmerksamen Umgang mit ihrer Psyche und ihren inneren Impulsen pflegten. “Emotionale Selbst-Regulierung bedeutet als individuelle Eigenschaft, dass ein Mensch aktiv auf die eigenen Emotionen eingeht, anstatt bloß auf sie zu reagieren. Personen, die ihre Gefühle regulieren können, machen nuanciertere, feinere Erfahrungen in einem bestimmten Moment, die sie tiefer in ihrem Langzeitgedächtnis bewahren, was wiederum die subjektive Zeitwahrnehmung verlangsamt.”, schreibt Marc Wittman. Fühlen lernen also, um gefühlt länger zu leben.

Fazit

Ob wir Zeit als schleichend empfinden oder als rasend, unser Leben als lang oder als kurz: In gewisser Weise ist es ohnehin stets beides. Bedenken wir, wie viele Jahre es gedauert und die Erde existiert hat, bis Menschen entstanden sind, die Penicilin erfunden haben, ist unser Leben kurz und fünf Jahres sind praktisch nichts. Lesen wir hingegen eine Biografie von einer Schauspielerin, hören die Lebensgeschichte unseres Großvaters oder einer Person in unserem Alter, die in Brasilien aufgewachsen ist, erkennen wir, wie viel Leben in ein paar Jahrzehnten stecken kann. Und die Person in Brasilien denkt das Gleiche über unsere Geschichte. Wir erkennen gerade mit Blick auf die Leben anderer Menschen, dass 30, 40 und sowieso 80 oder 100 Jahre eine Ewigkeit sein können. Eine Ewigkeit, die genug und alles ist. Wenn wir uns nach fünf Jahren erschrecken, wie schnell die Zeit vergangen ist, sagt uns das vielleicht, dass wir uns mehr Momente wünschen, die eine Ewigkeit und alles sind. Was für ein großer Luxus also, dass zwischen objektiv gemessener Zeit und unserer Wahrnehmung eine Diskrepanz bestehen kann.

Verwendete Quelle: psychologytoday.com

Source: Aktue