Ist es normal, sich gerne mit sich selbst zu beschäftigen? Oder ist das irgendwie … strange? Wir haben eine Psychologin gefragt.
Ich hätte nie gedacht, dass das solchen Spaß macht. Die wichtigsten Personen in meinem Leben sind … Schöne Frage! Was verbindet mich mit meinem Beruf und warum habe ich ihn gewählt? Beantworte ich auch gerne.
Seit etwa zehn Minuten arbeite ich mich durch “Leise Stimmen”, ein angeleitetes Journal, das die Psychologin Alexandra Zäuner veröffentlicht hat. Schon im ersten Kapitel, “Sich selbst besser kennenlernen”, erfahre ich Dinge über mich, die ich vorher nicht so klar auf dem Schirm hatte. Bei manchen Fragen sprudelt es aus mir heraus, bei anderen muss ich einen Moment nachdenken. Ein bisschen fühle ich mich wie damals mit zwölf: Wenn ich in das Freundschaftsbuch einer Klassenkameradin schreiben durfte. Lieblingsfarbe: Blau. Das möchte ich mal werden: erwachsen. Lieblingstier: Mein Hund Sheira. Habe ich immer lieber gemacht als Hausaufgaben.
Bei der Frage Was möchte ich gerne von mir und meinem Leben sagen, wenn ich am Ende darauf zurückblicke? schießt mir plötzlich ein Gedanke dazwischen: Was tust du hier eigentlich?Du verplemperst deine Zeit. Räum lieber deinen Kleiderschrank auf, such nach Themen für nächste Woche oder lies wenigstens dein Buch weiter. Das unterscheidet dieses Journal schließlich von einem Freundschaftsbuch: Bei Letzterem waren es andere Menschen, die sich für meine Antworten interessierten. Andere Menschen, die wollten, dass ich mir Zeit nehme es auszufüllen.
Ich klappe “Leise Stimmen” zu, lege es beiseite und fange an, mein Abendessen zuzubereiten. Zwischen Römersalat schneiden und Croutons aus dem Ofen holen notiere ich auch noch ein Thema für nächste Woche: Alexandra Zäuner fragen, warum ich gerne über mich selbst nachdenke – und ob ich mir deshalb Sorgen machen muss. Oder sollte ich sie eher fragen, wieso ich mir darüber Sorgen mache?
Selbstkenntnis verbessert den Umgang mit den eigenen Gefühlen
“Es ist sogar ganz wichtig, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen”, sagt mir die Psychologin, als wir einige Tage später telefonieren. Um unsere Ressourcen und Stärken zu kennen, zum Beispiel. Oder unsere Wünsche und Überzeugungen. “Niemand kann dir sagen, was deine Bedürfnisse, deine Werte und deine Ziele sind”, so Alexandra Zäuner. “Dazu kannst du nur dich selbst befragen.” Sie zitiert auch Aristoteles, der gesagt haben soll:
Sich selbst zu kennen, ist der Anfang aller Weisheit.
Befassen wir uns regelmäßig mit uns selbst, biete uns das in verschiedenen Lebensbereichen Vorteile, sagt die Psychologin weiter. So sei es generell die Voraussetzung dafür, dass wir konstruktiv mit unseren Gefühlen umgehen, eine gesunde “Emotionsregulation” kultivieren. Wenn wir uns zum Beispiel über etwas ärgern, sei es sinnvoll, uns zu fragen, warum wir uns ärgern, um dann angemessen auf die Situation zu reagieren. “Ohne Verständnis für unsere Emotion kommen wir nicht in die Handlung”, so die Psychologin. Und wenn wir nicht handeln, verharren wir länger in einer Gefühlslage – und erleben uns als weniger selbstbestimmt.
© Alexandra Zäuner
Verstehen können wir unsere Gefühle wiederum nur, sofern wir wissen, was uns wichtig ist. Welche Werte und Glaubenssätze uns ausmachen etwa. Oder welche Situationen uns an unsere Grenzen bringen. Ohne eine ausgeprägte Selbstkenntnis wäre unsere Gefühlswelt wie ein Irrgarten für uns, in dem wir von einer Sackgasse in die nächste wandern.
Selbstkenntnis als Grundlage für eine zufriedenstellende Lebensführung
Ähnliches gilt, wenn wir unsere persönlichen Ziele nicht kennen. “Sätze wie ‘man hat von mir erwartet, dass ich den Betrieb übernehme’ höre ich in der Praxis sehr oft”, sagt Alexandra Zäuner. Anstatt sich selbst zu befragen, lassen sich einige Menschen von außen vorgeben, wie sie ihr Leben führen sollen. Und viele dieser Personen gelangen nach Erfahrung der Psychologin irgendwann an einen Punkt, an dem sie sich unglücklich fühlen – und manchmal an einen, an dem sie Hilfe brauchen.
Sie berichtet von einer Patientin, die einige Wochen in einer Klinik verbracht hat, um sich mit sich und ihren Themen auseinanderzusetzen. “Was haben Sie aus dieser Zeit mitgenommen?” habe Alexandra Zäuner sie hinterher gefragt. ‘Es gibt mich wirklich.”, sagte die Patientin darauf. Jahrelang habe die Betroffene in erster Linie versucht, die Erwartungen anderer Menschen zu erfüllen – die ihrer Eltern, die ihres Ehepartners, die ihrer Kinder. Sich selbst hat sie dabei vergessen und ignoriert. Erst eine Auszeit von ihrem Alltag hat sie sich spüren und ihre eigenen inneren Stimmen hören lassen.
Vernachlässigen wir uns selbst, merkten das in der Regel übrigens nicht nur wir, sondern auch uns nahestehende Personen – Partnerinnen, Freunde, Kolleginnen, Söhne. “Wenn ich nicht weiß, was mich ausmacht, was meine Bedürfnisse und Grenzen sind, belastet das meine Beziehungen”, sagt die Psychologin, “denn dann kann ich nicht klar kommunizieren. Je besser ich weiß, was mich umtreibt, umso besser kann ich es mitteilen.”
Selbstinteresse ist gesund und sinnvoll
Laut Alexandra Zäuner sei es also ein gesunder Impuls, sich gerne mit sich selbst zu befassen und ein Bedürfnis danach zu verspüren. Denn dies zu tun, komme uns und unserem Umfeld zugute. Zudem spreche es dafür, dass wir eine unbelastete Beziehung zu uns hätten. “Manche Menschen vermeiden es, sich mit sich zu beschäftigen, weil sie Angst davor haben, worauf sie dabei stoßen”, so die Psychologin.
Die Ausführungen von Alexandra Zäuner – und Aristoteles – erscheinen mir nachvollziehbar. Trotzdem gibt es da noch eine Stimme in mir, die sagt: “Deine Urgroßmutter hat sich nicht regelmäßig hingesetzt und über sich selbst nachgedacht.” Und eine andere, die schreit: “Dein Kleiderschrank ist immer noch nicht aufgeräumt.” Wenn ich erst einmal anfange hinzuhören, merke ich, wie viele Stimmen in mir durcheinander sprechen. Und ich verstehe diese Angst, von der Alexandra Zäuner spricht.
Ob normal oder nicht, ich denke, ich klappe “Leise Stimmen” heute Abend wieder auf. Und ich besorge mir demnächst mal wieder ein Freundschaftsbuch. Vielleicht haben auch meine Freunde Spaß daran, sich mit sich selbst zu befassen – und brauchen jemanden, der sie dazu einlädt.
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