"Früher war alles besser": Warum sich die Welt zum Schlechteren zu entwickeln scheint – und was wirklich dran ist

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Die Polkappen schmelzen, überall herrscht Krieg, mehr und mehr Menschen wählen rechts und immer muss alles so furchtbar schnell gehen. Entwickelt sich die Welt zum Nachteil? Unsere Autorin hat manchmal das Gefühl und fragt sich, was dahinterstecken könnte. 

Gab es in der Geschichte der Menschheit jemals so viele Probleme wie heute? Klimakrise, Inflation, Kriege, Spaltungen und Rechtsrucke von Gesellschaften. In Umfragen geben immer mehr Menschen an, sich einsam oder gestresst zu fühlen. In Städten brauchen Leute zum Teil zwei Jobs, um sich eine Wohnung leisten zu können. Und immer mehr Länder werden zu Krisengebieten, in denen Menschen um ihr Leben fürchten müssen, wenn sie nur vor die Haustür treten. Während nach wie vor Millionen von Menschen hungern und unterernährt sind, entwickelt sich Übergewicht langsam, aber sicher weltweit zu einem Problem für Gesundheitssysteme – und die laut “Statista” knapp drei Milliarden Betroffenen.

“Polykrisen” ist der Begriff, der in Politik- und Wirtschaftslehre in Bezug auf die heutige Zeit gebräuchlich ist: Unsere Probleme sind nicht nur zahlreich, sondern hängen meist in komplexer Weise miteinander zusammen. Manchmal habe ich das Gefühl, es war alles schon einmal besser, und frage mich: Verändern wir die Welt zum Schlechteren? Leben wir heute in der problematischsten, schwierigsten Zeit, die es je gab? Ich glaube nicht.

Unsere Wahrnehmung von Gegenwart und Vergangenheit ist verzerrt

Generell ist es schwierig für uns, zurückliegende und aktuelle Ereignisse miteinander zu vergleichen, weil wir Vergangenheit und Gegenwart jeweils mit einem anderen Blick und unter anderen Voraussetzungen betrachten. Unsere Wahrnehmung der Vergangenheit ist verzerrt, und zwar dahingehend, dass sie uns schöner und leichter erscheint. “Rosige Retrospektion” sagen Psycholog:innen dazu, “Nostalgie” trifft es auch. 

Ein Beispiel: Vor einigen Wochen hatte ich einen Unfall, bis heute kann ich mein Bein nicht richtig bewegen. Ich leide darunter momentan und würde schwören, dass ich noch nie so schlimm verletzt war. Stimmt aber gar nicht: Vor etwa zehn Jahren hatte ich eine Adduktorenzerrung, die derart weh tat war, dass ich nicht gehen konnte, ohne zu weinen. Doch das spüre ich heute nicht mehr. Ich spüre nur die akuten Schmerzen in meinem rechten Bein. Deshalb erscheinen sie mir schlimmer und schwerer auszuhalten.  

In ähnlicher Weise lässt sich das auf die Vergangenheit übertragen, die wir gar nicht selbst erlebt haben: In mir zieht sich alles zusammen, wenn ich mir vorstelle, wie sich chinesische Frauen früher die Füße gebunden – und gebrochen – haben, um dem über eine lange Zeit geltenden Schönheitsideal zu entsprechen. Doch mein Schaudern ist ein Witz verglichen mit dem Schmerz, den diese Frauen damals gespürt haben. Ich kann mir Leid, Sorgen und Nöte von Menschen vergangener Zeiten vorstellen und Mitgefühl empfinden. Aber ich erlebe nicht, was sie erlebten. 

Das gilt auch für viele Probleme der Vergangenheit, sie erscheinen uns heute oft weniger groß und schwierig – besonders, wenn sie gelöst sind. Den Problemen der Gegenwart müssen wir uns hingegen stellen. Die Vergangenheit ist und bleibt, wie sie ist, die Gegenwart (und Zukunft) müssen wir gestalten. Und das kann sich anstrengend anfühlen.

Macht die Welt uns psychisch immer kränker?

Es gibt allerdings gewisse Zahlen, die dafür zu sprechen scheinen, dass sich unsere Gesellschaft in eine bedenkliche Richtung entwickelt. 

Zum Beispiel geht aus dem DAK-Gesundheitsreport hervor, dass sich die Anzahl der Ausfalltage von Arbeitnehmenden aufgrund psychischer Beschwerden seit 1997 ungefähr vervierfacht hat: 1997 verzeichnete die Krankenkasse 77 Ausfalltage pro 100 Versicherten, 2023 waren es 323. Ich könnte mir vorstellen, dass das etwa am Multi-Tasking liegt. Oder an dem ständigen Leistungsdruck, den vielen, schnellen Veränderungen der Arbeitswelt, überhaupt an diesem unfassbar hohen Tempo, in dem heute alles passieren muss. Denkbar, dass das moderne Leben immer schwerer zu bewältigen wird und die heutigen Lebensumstände Menschen krank machen. 

Auf der anderen Seite hat sich auch das Bewusstsein unserer Gesellschaft für psychische Gesundheit in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt. Psychisch krank zu sein – oder sich überfordert zu fühlen und Hilfe zu brauchen –, galt vor 30 Jahren als peinliche Schwäche. Kaum jemand hat öffentlich über Erkrankungen wie Depressionen, Essstörungen oder Panikattacken gesprochen. Heute führen Unternehmen Befragungen zu psychischen Belastungen am Arbeitsplatz durch, und fast jeder Mensch kennt mindestens eine prominente Person, die öffentlich über ihre psychischen Probleme gesprochen hat. Wir pflegen einen völlig anderen Umgang mit mentaler Gesundheit, haben ein ganz anderes Verständnis von uns und unserer Psyche. 

Zahlen wie psychisch begründete Ausfalltage oder Umfragewerte zu Stress und Wohlbefinden von heute und von früher lassen sich deshalb nicht einfach eins zu eins vergleichen. 

Jede Zeit hat ihre Herausforderungen

Es gibt vielfältige, große Probleme, die unsere Zeit von anderen Kapiteln unserer Geschichte unterscheidet. Und die wir alle aushalten müssen. Zum Beispiel lässt sich der Klimawandel mittlerweile nicht mehr ignorieren. Wir leben in ständiger Angst und Sorge, dass unser Planet bald nicht mehr so bewohnbar für uns und unsere Nachfahren ist, wie wir es gewohnt sind, – und haben bei jeder Reise und jedem Einkauf ein schlechtes Gewissen, wenn wir nicht die klimafreundlichste Option wählen. Wir erfahren von jedem schweren Erdbeben, jedem Terroranschlag und Krieg. Wir bekommen mehr Informationen, als wir verarbeiten können, und dabei liegen besonders Horrormeldungen im Fokus – weil wir als Individuen und als Gesellschaft potenziellen Bedrohungen, Gefahren und Missständen prinzipiell mehr Aufmerksamkeit schenken. Mag das Leben nicht entspannter gewesen sein, als es Internet und Globalisierung noch nicht gab? Als Begriffe wie Klimaangst nicht existierten?

Blicke ich allerdings in der Geschichte zurück, sehe ich Frauen, die nicht wählen konnten. Mädchen, die nicht zur Schule gehen durften und Menschen, die an einer Grippe oder Infektion starben. Sicherlich leben wir heute nicht im Schlaraffenland. Doch in der Vergangenheit gab es andere schwerwiegende Probleme. Wie könnte ich oder irgendein Mensch, der nur die Zeit kennt, die er selbst erlebt, beurteilen, mit welchen Problemen es sich besser oder schlechter, leichter oder schwerer leben lässt? 

Das Gefühl “früher war alles besser und die Welt wird immer schlechter” mag eine Berechtigung, nachvollziehbare Gründe und einen Sinn haben. Allerdings bleibt es ein Gefühl beziehungsweise ein subjektiver Eindruck. Es ist nicht die Feststellung einer Tatsache oder die Erkenntnis einer Wahrheit. 

Source: Aktue