Das häufigste Alter bei uns ist 60, doch die Folgen des demografischen Wandels sind noch gar nicht begriffen, sagt Aladin El-Mafaalani. Hier erklärt der Soziologe, warum die ältere Generation umdenken muss und was sie für die Zukunft aller tun kann.
BRIGITTE: “Kinder – Minderheit ohne Schutz”, heißt Ihr neues Buch. Dabei scheint es, als würden Kinder mehr denn je umsorgt werden – Stichwort Helikoptereltern oder bedürfnisorientierte Erziehung. Ist die Lage der jungen Generation wirklich so besorgniserregend?
Aladin El-Mafaalani: Wenn wir uns Gedanken um den demografischen Wandel machen, denken wir alle an die Herausforderungen des Alterns. Dabei sind gerade die Kindheiten prekär: Kinder und Jugendliche bilden die kleinste Gruppe, und das Armutsrisiko ist bei ihnen größer als in jeder anderen Altersgruppe. Wir haben in Deutschland sehr schlechte Bildungsergebnisse, und die Kinder verbringen immer mehr Zeit in Kitas und Schulen, in denen sie sich viel zu häufig unwohl fühlen, wie Studien zeigen. Kindheiten sind heute fragmentiert und superdivers, gerade die Jüngsten haben familiäre Wurzeln in sehr vielen Ländern und erfahren ganz unterschiedliche Lebenswelten. Bei dieser sehr kleinen Bevölkerungsgruppe haben wir also die größte Vielfalt und unterschiedlichste Rahmenbedingungen. Diese Entwicklungen wurden noch kaum wirklich verstanden. Gleichzeitig schreitet die Alterung der Gesellschaft voran. Es wird also noch schlimmer werden.
War früher alles besser?
Als die Babyboomer Kinder waren, wurden unglaublich viele Reformen angestoßen und Maßnahmen ergriffen, weil man diese große Bevölkerungsgruppe nicht übersehen konnte. Man hat diese Kinder zwar auch nicht wirklich toll behandelt, aber man hat gesehen: Das sind so viele, dass wir die Infrastruktur ausbauen und Verbesserungen in der Versorgung herbeiführen müssen. Heute sind die Kinder eine Minderheit. Und obwohl diese jungen Menschen vernachlässigt und diskriminiert werden, sprechen wir nur über die Altersdiskriminierung, denn das häufigste Alter bei uns ist 60. Auch die Räume, die Kinder und Jugendliche frei nutzen können, werden immer knapper.
An welche Räume denken Sie? Spielplätze gibt es einige.
Jugendzentren, Proberäume, all das gibt es immer weniger. Gleichzeitig sind wir eine Gesellschaft geworden, die kritisch guckt, wenn junge Leute den öffentlichen Raum vereinnahmen, was früher relativ normal war. Die viel zu starke Nutzung der digitalen Welt hat übrigens auch damit zu tun, dass wir in der analogen Welt zu wenige Räume für Kinder haben. Doch weil sie ein digitales Beruhigungsmittel haben, rebellieren sie nicht.
Die Älteren sind nicht nur Teil des Problems, sondern auch Teil der Lösung, schreiben Sie. Denn damit Kinder gedeihen, brauchen sie Erwachsene, die sich wirklich für sie interessieren. Hier bringen Sie die Babyboomer ins Spiel. Was können sie tun?
Es ist unmöglich, das demografische Problem ohne diese Gruppe in den Griff zu bekommen. Die Babyboomer gehen bald in Rente und sie sind nicht nur in der Mehrheit, sie sind auch körperlich und kognitiv die fittesten Alten, die wir je hatten. Deshalb plädiere ich für zwei Dinge: Erstens muss sich das Bild ändern, wie die gesellschaftliche Verantwortung im Alter aussehen sollte. Das zweite ist, dass Kitas und Schulen eine flächendeckende Kooperationsstruktur aufbauen müssen, damit es für Senior:innen leichter wird, sich einzubringen. Denn wenn jeder, der etwas tun möchte, bei der Schule um die Ecke anklopft, würde das die Schulen überfordern. Da sehe ich die Kommunen, Länder und auch den Bund in der Pflicht, die finanziellen Mittel bereitzustellen und das Ganze zu koordinieren und Anreize zu schaffen. Wir schlagen unter anderem auch vor, dass die Rentenversicherung dem Bescheid ein Formular beilegt, auf dem man angeben kann, welche Tätigkeit man sich mit Kindern und Jugendlichen vorstellen könnte.
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In Ihrem Buch steht eine beeindruckende Zahl: Wenn sich nur jede zehnte Person aus den geburtenstärksten Jahrgängen in Kita oder Grundschule engagieren würde, wären das mehr als alle Erzieher:innen und Grundschullehrkräfte zusammen. Diese zehn Prozent zu mobilisieren, müsste doch eigentlich möglich sein, oder?
Absolut. Meinem Eindruck nach möchten sich viele Menschen engagieren, es darf nur nicht zu kompliziert sein. Und wir könnten damit eine Win-win-Situation schaffen: Menschen tun etwas Notwendiges und Sinnstiftendes und können damit ihre Rente aufbessern. Vielleicht als steuerfreie Honorarkraft oder sogar mit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung und allen Vergünstigungen, die man sich vorstellen kann.
Solche Strukturen und Anreize gibt es bislang nicht. Was könnten die Älteren jetzt schon tun?
Zunächst sollten sie sich bewusst machen, wie einflussreich und mächtig sie allein durch ihre Anzahl sind, und ihre Verantwortung stärker wahrnehmen – nicht nur für die eigenen Enkelkinder, sondern für die gesamte junge Generation. Es wird alles über die Köpfe der Kinder hinweg entschieden, und selbst wenn sie wahlberechtigt wären, wären sie so wenige, dass die Älteren trotzdem den stärkeren Impact hätten. Durch ihr politisches und zivilgesellschaftliches Handeln könnten sie also der Gamechanger sein. Man darf auch nicht vergessen, dass wir alle davon profitieren: Die jungen Leute sind diejenigen, die den Laden am Laufen halten müssen, wenn die Babyboomer in 20, 25 Jahren hochaltrig sind. Zwar glauben alle, sie wüssten, was der demografische Wandel bedeutet, aber es ist noch nicht wirklich begriffen, auf wie viele Bereiche das Auswirkungen haben wird.
Und was könnten die Babyboomer ganz konkret für Kinder und Jugendliche tun?
Das tollste Engagement ist, als Mentor:in einen kleinen Menschen über mehrere Jahre zu begleiten. Das ist gar nicht so aufwändig und etwas, was sinnstiftend ist, Freude bereitet und gleichzeitig von enormem Wert für die Gesellschaft insgesamt ist. Gerade, wenn die Eltern überfordert sind oder nicht helfen können, weil sie zugewandert oder suchtkrank sind, in Armut leben oder viel arbeiten. Wenn dann jemand da ist, der als Begleiter und Ansprechpartner für das Kind zur Verfügung steht, ist das wunderbar. Zumal die Großeltern heute in der Regel viele Kilometer von ihren Enkelkindern entfernt leben. Wir haben das Konzept der “Wahlgroßeltern” entwickelt, weil wir uns viel vernetzter begreifen müssen – weg von der rein familiären Verantwortung, hin zur sozialen Generationenbeziehung.
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