Doch, doch, es geht: Wie du anderen Menschen wertschätzend widersprechen kannst

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Manchen Menschen fällt es sehr schwer, anderen Personen zu widersprechen. Was Gründe sein und welche Formulierungen Betroffenen helfen können, liest du hier. 

Nein sagen, kritisieren, widersprechen – die großen Herausforderungen des menschlichen Miteinanders. Zumindest für einige Menschen. Andere scheinen nichts lieber zu tun, als die Fehler und Irrtümer ihrer Mitmenschen aufzuzeigen oder klarzustellen, dass sie eine Sache völlig anders sehen als ihr Gegenüber. Für mich sind letztgenannte vor allem bewunderns- und beneidenswert, ich gehöre nämlich zu jenen, die am liebsten zu allem Ja sagen und zustimmen. 

Laut den wissenschaftlichen Theoriehäppchen, die mir bekannt sind, bin ich mit meinem Hang zum Zustimmen in guter Gesellschaft. 2016 haben zum Beispiel Forschende aus Melbourne vom Monash Institute of Cognitive and Clinical Neurosciences zeigen können, dass Widersprechen physisch nachweisbaren Stress verursachen kann. Einer der Forschenden, Juan Domínguez, sagte dazu: “Menschen mögen es, anderen zuzustimmen. Ein sozialer Standard, der als ‘Truth Bias’ bekannt ist und dabei hilft, Beziehungen aufzubauen und zu erhalten. Menschen mögen es nicht, zu sagen, dass andere nicht die Wahrheit sagen oder lügen, weil das eine unangenehme Situation entstehen lässt.” Wer möchte schon verantwortlich dafür sein, dass eine unangenehme Situation entsteht? 

Bei mir kommt aber noch etwas dazu, von dem ich glaube, dass es mir das Widersprechen erschwert: Ich zweifele grundsätzlich daran, dass ich irgendetwas besser weiß als mein Gegenüber. Oder denke, dass es auf irgendeine Art richtig ist, was es sagt, und ich nur lange genug nachdenken (oder nachfragen) muss, um zu verstehen, auf welche. Deshalb erscheint es mir respektlos zu widersprechen, respektlos gegenüber meinem Gegenüber und dem, was es zu sagen hat. Doch ich gebe zu, wahrscheinlich ist das Entscheidendere: Ich möchte am liebsten von allen gemocht werden, niemandem ein unangenehmes Gefühl bereiten und idealerweise ausschließlich völlige Harmonie und Eintracht in meinen sozialen Interaktionen. 

Das Problem daran ist nur: Menschen sagen ständig die Unwahrheit oder lügen. Und von all den Gründen, die sich finden ließen, Irrtümer und Lügen zu korrigieren, die uns auffallen, erscheint mir einer am motivierendsten, es zu tun: Wenn wir immer allem unkritisch zustimmen, können wir früher oder später ziemlich dumm dastehen. Es kann beispielsweise peinlich werden, wenn herauskommt, dass wir irgendeinen Quatsch einfach haben stehen lassen, und wir können unseren Anspruch verwirken, ernstgenommen zu werden. Ich respektiere Menschen, die mir widersprechen, und bin oft sogar dankbar – spätestens nach ein paar Stunden. Zumindest solange sie mir nicht ständig und aus Prinzip zu widersprechen scheinen. Wer also einen ähnlich starken Hang zum Zustimmen hat wie ich: Ich befürchte, es ist in unserem Interesse, das Widersprechen zu lernen. Vielleicht können folgende Formulierungen dabei helfen, die erste Schwelle dafür zu überwinden.

4 Ideen für einen sanften und respektvollen Widerspruch

“Interessante Sichtweise. Ich sehe es folgendermaßen …”

Widersprechen ohne zu widersprechen – einfacher geht es kaum, diese Formulierung könnte der Durchbruch für einige Einwand-Analphabet:innen und -Neulinge sein. Eine äußerst kluge Kollegin von mir nutzt sie nach eigener Aussage seit Jahren und scheint damit erfolgreich zu sein. Zumindest habe ich bisher noch keine unangenehme Situation mit ihr erlebt. Obwohl ich im Alltag sicherlich einigen Quatsch von mir gebe – und sie sehr aufmerksam ist.

“Das habe ich bis vor Kurzem ebenfalls geglaubt, doch wie ich nun gelernt habe …”

Ob es stimmt oder nicht: Mit dieser Formulierung verbünden wir uns mit unserem Gegenüber, stellen uns neben es auf seine Stufe der Unwissenheit und des Irrtums und zeigen ihm dann den Weg, der uns durch Zufall eine Stufe weiter geführt hat. Wir sagen: “Kein Grund, dich zu schämen, ich bin selbst noch ganz erstaunt, dass ich dir nicht mehr zustimme, aber die Welt ist wirklich abgefahren.” Fällt einigermaßen leicht zu sagen, fällt ziemlich leicht zu hören – diesen Satz probiere ich das nächste Mal aus, wenn mir jemand sagt, Hillbillies haben etwas mit Kalifornien zu tun. 

“Das wäre mir neu, wie kommst du darauf?”

Kann funktionieren, kann gegebenenfalls die Situation noch stressiger werden lassen: Zweifel an dem Gesagten andeuten, darauf hoffen, dass diese auf das Gegenüber überspringen, und sich den echten Widerspruch im Idealfall sparen können. Wenn allerdings die Zweifel nicht übergreifen, kann es sein, dass wir uns am Ende mit noch mehr konfrontiert sehen, gegen das wir Einwände vorbringen müssten. Ich werde mir diesen Satz zwar merken, verwende ihn aber lieber nur bei ausgewählten Menschen, von denen ich denke, dass er den gewünschten Effekt hat.

“Nein, du irrst dich.”

So schwer es manchmal sein mag zu widersprechen: Rational betrachtet ist gar nichts dabei. Alle Menschen irren sich, denn niemand ist allwissend, und wir können viel voneinander lernen. Wer offen und direkt widerspricht, demonstriert damit, das verstanden zu haben und darauf zu vertrauen, dass das Gegenüber das ebenfalls tut und mit einem Einwand umgehen kann. Für mich fühlt es sich vielleicht nicht so an und möglicherweise liegt das daran, dass ich die Dinge in meinem Denken verkompliziere, doch unter Umständen kann in dem einfachsten, deutlichsten Widerspruch ein Ausdruck tiefen Respekts und großer Wertschätzung stecken. Den Tag, an dem ich diesen Satz entspannt und ohne Überwindung äußern kann, werde ich mir blau anstreichen (ich nutze standardmäßig blaue Tinte, sonst hätte ich natürlich rot gewählt).

Verwendete Quellen: monash.edu

Source: Aktue