Empowerment: "Ich musste das Wort Vagina sagen, um etwas zu verändern"

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Was der Beckenboden mit Feminismus zu tun hat, weiß Tania Boler, Gründerin des Femtech-Startups Elvie. Ihr Herzensprojekt: Beckenbodentraining sexy und alltagstauglich machen.

Tania Boler ist zweifache Mutter. Sie promovierte im Bereich der sexuellen Gesundheit und war Global Director of Research and Innovation bei einer NGO für Frauengesundheit, bevor sie 2013 das Femtech-Startup “Elvie” gründete. Ihr Herzensanliegen ist es, Tabus rund um Frauengesundheit zu brechen. Was Beckenbodentraining mit Feminismus zu tun hat, darüber spricht sie mit uns im Interview.

BRIGITTE: Sie haben früher in Afrika über Frauengesundheit und HIV aufgeklärt. Bei welchen Frauenthemen haben wir in Europa noch Aufklärungsbedarf?

Tania Boler: Ich habe immer daran gearbeitet, Frauen das Wissen zu geben, das sie brauchen, um selbst über ihren Körper zu bestimmen. Auch in Europa haben wir das Problem, dass wir entscheidende Dinge, die mit Frauengesundheit zu tun haben, nicht in der Schule lernen. Auf dem Lehrplan stehen zwar Sexualität und Pubertät, aber über den Beckenboden lernt niemand etwas. Mädchen im Alter von elf oder zwölf Jahren sollten den Beckenboden aber als ein wichtiges Körperteil kennenlernen, um das sie sich kümmern müssen. Das würde vielen Problemen vorbeugen.

Weshalb ist es so wichtig, sich mit dem Beckenboden auszukennen?

Es herrscht das Missverständnis, dass nur Frauen, die Babys bekommen haben, Probleme mit dem Beckenboden entwickeln und mit Inkontinenz zu tun haben. Natürlich ist das der Moment, in dem am meisten Bewusstsein dafür herrscht. Betroffen sind aber viel mehr Frauen aus unterschiedlichen Gründen. Frauen, die viel Sport machen, zum Beispiel. Kraftsport wie Crossfit belastet den Beckenboden sehr, ebenso wie Tennis, Reiten oder Joggen. Erstaunlicherweise ist der Beckenboden häufig sogar der Grund für Schmerzen im unteren Rücken. Das wissen die wenigsten.

Was hat Sie veranlasst, Ihren Job als Führungskraft bei einer NGO zu kündigen, um in die Selbstständigkeit zu gehen und einen Beckenbodentrainer zu entwickeln?

Für mich war das Aha-Erlebnis, als ich nach der Geburt meines ersten Kindes in Frankreich in einem Pilates-Kurs war und der Kursleiter zu mir sagte, das Wichtigste sei, mich um meinen Beckenboden zu kümmern. Es war das erste Mal seit der Geburt, dass es um mich ging und nicht um das Baby. In Frankreich herrscht dafür ein besseres Bewusstsein, dort gilt nicht alle Aufmerksamkeit allein dem Kind. Ich las mich in das Thema Beckenboden ein, mit dem ich mich noch nie beschäftigt hatte. Ich wurde sehr wütend, als ich die Statistiken sah, denn ich erkannte, dass Prävention etwas ändern würde, den Frauen aber das Wissen und die passenden Technologien fehlten. Mein Gedanke war: “Ich bin eine Frau und Mutter, ich habe wenig Zeit und brauche etwas Alltagstaugliches, um meinen Beckenboden zu trainieren. Etwas, das Spaß macht und am besten in coolem Design.”

Männer hielten es für ein Sexspielzeug

War es schwierig, die Investoren von einem Produkt zu überzeugen, das mit der weiblichen Intimsphäre zu tun hat?

Wir waren ein Lacher. Viele Männer dachten, wir präsentieren ein Sexspielzeug. Es war sehr schwierig, über etwas zu sprechen, zu dem so wenig Wissen vorhanden war. Der Beckenboden ist ein Tabuthema, denn er hat mit der Vagina zu tun. Die meisten Investoren wollten damit nichts zu tun haben. Der Schlüssel war, die Emotionen rund um das Tabu wegzulassen und sich allein auf die Zahlen zu konzentrieren. Die Tatsache, dass jede zweite Frau in Deutschland Beckenbodenprobleme hat, spricht für sich. Trotzdem brauchten wir eine dicke Haut.

Was war eine Situation, in der Sie als Gründerin so eine dicke Haut brauchten?

Ein Investor hat tatsächlich einmal seine Sekretärin hineinbefohlen und sie direkt gefragt: “Kennst du solche Probleme?”. Das war wirklich unangemessen. In einem anderen Meeting saßen acht Männer und wir ließen den Prototyp des Beckenbodentrainers herumgehen. Plötzlich stellte ich fest, und mit mir alle anderen Anwesenden, dass einer der Investoren keine Ahnung hatte, wie das Produkt angewendet wird – also dass man es in die Vagina einführt. Er hielt es sich an den Bauch. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich direkter sein muss. Ich musste das Wort Vagina sagen, um etwas zu verändern. Zuvor hatte ich das immer vermieden.

Frauen sollen sich von ihrer Scham befreien

Männliche Investoren sind das eine, aber wie schwierig ist es, die Frauen für das Thema zu begeistern? 

Es gibt einen Unterschied zwischen den Generationen. Es ist einfacher, mit jungen Frauen und frisch gebackenen Eltern über das Thema zu sprechen. Frauen um die 40 und 50 sind viel schwieriger zu erreichen. Leichter wird es wieder ab 70 Jahren. In diesem Alter sind Beckenbodenprobleme leider sehr verbreitet. Wir bekommen viel begeistertes Feedback von Frauen im Rentenalter. Sie hatten geglaubt, sie müssten sich mit ihrem schwachen Beckenboden abfinden, weil sie es ihr Leben lang so gekannt haben. Dich die Übungen mit dem Beckenbodentrainer haben für sie Vieles zum Besseren verändert. Sie fühlen sich dadurch freier, können einkaufen gehen, ohne unterwegs auf Toiletten angewiesen zu sein. Der Beckenboden ist eine Muskelplatte. Wenn du sie nicht trainierst, wird sie schwach. Wenn du sie aber stark hältst, gewinnst du Kontrolle zurück und fühlst dich besser. Die jungen Frauen wiederum wissen den Beckenbodentrainer zu schätzen, um ihr Sexleben und ihre Orgasmen zu verbessern. Für all diese Frauen wollen wir offene und ehrliche Gespräche anregen, die dazu empowern, über die eigene Gesundheit zu sprechen. Auf diese Weise brechen wir hoffentlich diese unnötigen Tabus und die Frauen können sich von ihrer Scham befreien.

Eine feministische Welle mit mutigen Gründerinnen

Das klingt nach einem Stück Emanzipation. Über das Potenzial von Femtech wird viel gesprochen, Frauenmedizin boomt. Ist das allein mutigen Frauen zu verdanken oder woran liegt das?

Ich glaube, wir befinden uns mitten in einer feministischen Welle. Eine große Welle gab es in den 60er Jahren, als die Antibabypille eingeführt wurde. In den letzten fünf, sechs Jahren haben wir eine neue Welle erlebt, unter anderem befeuert durch die MeToo-Bewegung und die sozialen Medien. Die Kommunikation hat sich verändert. Junge Frauen sprechen nun offen über ihre Periode, sie sagen “Seht her, ich bin eine Frau, ich blute!” – und es ist total normal. Durch Smartphones haben wir nun auch Zugang zu Daten rund um unseren Körper. Das ist eine sehr positive Bewegung, die ein gutes Umfeld schafft für die Entwicklung von FemTech. Als ich Elvie gegründet habe, gab es das Wort Femtech noch gar nicht. Jetzt gibt es Hunderte mutige Gründerinnen in diesem Bereich. Femtech ist ein Ausdruck der großen feministischen Veränderungen.

Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis als Gründerin, welchen Mut-Tipp haben Sie für andere Pionierinnen?

Es geht vor allem darum, nichts zu persönlich zu nehmen. Kritik an etwas, für das man so brennt und für das man so hart gearbeitet hat, kann schwer sein, aber manchmal ist es genau das, was man hören muss, um sich weiterzuentwickeln. Ich habe daran geglaubt, dass Frauen das Produkt lieben werden und es einen echten Unterschied machen wird. Darauf habe ich mich konzentriert. Als weibliche Unternehmerin ist es nie einfach, sich in einer Männerdomäne zu behaupten, und es kann einschüchternd sein, sich in etwas zu stürzen, wenn man nicht viele weiblich Vorbilder hat. Aber es gibt ein wachsendes Netz von außergewöhnlichen, gleichgesinnten Unternehmerinnen, die bereit sind, sich gegenseitig zu unterstützen.

Anmerkung der Redaktion: Der “Elvie”-Beckenbodentrainer ist als medizinisches Hilfsmittel zugelassen. Wenn du unter einer Indikation wie Blasenschwäche oder Belastungsinkontinenz leidest, kannst du dir den Beckenbodentrainer von deinem:r Gynäkolog:in verschreiben lassen.

Source: Aktue