Hab's versucht: Warum ich mich nicht wie eine Freundin behandeln kann

Aktuel

In dem Rat “behandle dich wie eine Freundin” stecken viele kluge Gedanken. Unserer Autorin fällt es trotzdem schwer, ihn zu befolgen. Warum, erklärt sie hier.

Ich lese fast wöchentlich irgendwelche Ratschläge, zu denen mein erster Gedanke ist: Wie soll mir das denn bitte helfen? “Behandle dich selbst wie eine Freundin” gehört nicht dazu. Als mir der Satz zum ersten Mal unterkam, konnte ich sofort etwas damit anfangen. Eine Freundin interessiert sich beispielsweise dafür, wie es mir geht. Sie nimmt ernst, was ich fühle, mag mich mit meinen Fehlern und Schwächen. Sie verbringt gerne Zeit mit mir und schätzt mich so, wie ich bin. All das wünsche ich mir für meinen Umgang und meine Einstellung zu mir selbst. Umso frustrierender, dass ich es selten schaffe, diesen Rat zu beherzigen und in die Tat umzusetzen. Doch statt an mir selbst zu verzweifeln, starte ich jetzt einfach noch einen Versuch und frage mich mit dem ehrlichen Interesse einer Freundin: Woran hakt es denn? Was ist eigentlich mein Problem?

Strenge und Disziplin: Was meine innere Freundin oft übertönt

Versetze ich mich in eine Situation, in der es mir typischerweise gar nicht gelingt, mich freundschaftlich zu behandeln, springt mir als erstes ein sehr dominanter Ärger in den Fokus. Ärger begleitet von einer leisen Enttäuschung. Dieser Ärger bringt Sätze hervor wie, “wieso hast du daran nicht gedacht?” oder “das hättest du doch schon vor Wochen machen können!”. Er macht mir Vorwürfe, hält mir meine Schwächen und Versäumnisse vor. Versuche ich ihm dann eine Freundin entgegenzusetzen, “niemand kann immer an alles denken” oder “vor ein paar Wochen hatte ich nicht die Kraft”, mag der Ärger vielleicht ein bisschen leiser werden – doch dafür kommen dann die melancholischen Klänge der Enttäuschung besser durch: “Ich wünschte, ich könnte mehr.” Und an diesem Punkt erlebe ich dann immer wieder: Der Trost einer vorgestellten Freundin, die ich selbst spielen soll, ist nicht ansatzweise vergleichbar mit dem einer echten.

Was mir dieser gedankliche Ausflug in meine alltäglichen Montagsmomente zeigt: Es gibt unterschiedliche Seiten oder Ströme in mir, die offenbar nicht immer einer Meinung sind. Während die strenge Seite meint, ich habe Mist gebaut, hat die freundschaftliche dafür Verständnis. Liebend gerne würde ich nur auf diese zweite Seite hören, da das, was sie mir sagt, angenehmere Gefühle in mir auslöst. Doch ich kann die strenge Seite nicht einfach abstoßen – denn ich sehe, dass sie eine gute Absicht hat: Sie möchte, dass ich mich weiterentwickle. Dass ich beim nächsten Mal an diese eine Sache mitdenke, damit ich mich nicht wieder ärgern muss. Sie mag an-streng-end sein, aber letztendlich glaubt sie an mich. Und, sieh mal einer an, das dürfte jawohl heißen: Ich glaube an mich.

Ich bin mehr für mich als eine Freundin

So sinnvoll, klug und gesund der Rat sein mag, mich wie eine Freundin zu behandeln: Für mich ist es okay, dass ich ihn nur bedingt anwenden kann. Ich bin nun einmal nicht meine Freundin. Ich bin ich. Und meine Freundinnen sind meine Freundinnen. Ich habe eine andere Verantwortung mir gegenüber als meine Freundinnen. Ich lebe jeden Tag mit allem, was ich tue und wer ich bin. Ich muss die Konsequenzen meines Verhaltens tragen. Wenn ich mir das vergegenwärtige, erscheint es mir völlig verständlich, dass ich nicht immer alles einfach so akzeptieren kann. Dass ich mich gelegentlich ärgere oder etwas bereue. Gewiss möchte ich mich mögen, wie ich bin, aber ich möchte auch werden, wer ich gerne wäre – und wer ich glaube, sein zu können. Dafür brauche ich meine strenge Seite. Dafür muss ich zulassen, wenn ich mich von mir enttäuscht fühle. 

Wenn ich das Leben als zu schwer und anstrengend empfinde, mag es vielleicht daran liegen, dass die Freundin in meinem Chor der inneren Stimmen nicht laut genug zu hören ist. Vielleicht muss ich dann am Regler drehen oder sie weiter nach vorne stellen, damit sie besser zu mir durch dringt. Doch im Großen und Ganzen harmoniert mein Chor, der mich zu der Person gemacht hat, die ich heute bin. Ich kann und möchte gar nicht einer einzelnen Stimme den Solopart geben, nicht einmal der warmen, freundschaftlichen. Allerdings bin ich dafür umso dankbarer für meine äußeren Freundinnen. Denn ohne die wäre mein innerer Chor längst aus dem Takt.

Source: Aktue