Hype um Ozempic: "Fettfeindlichkeit lässt sich nicht wegspritzen"

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Auf der einen Seite sind wir doch mittlerweile alle body positive – auf der anderen Seite ist size zero zurück und der Hype um die “Abnehmspritze” groß. Unsere Autorin fragt sich: Wie geht das zusammen?, und hat mit einer Kulturwissenschaftlerin darüber gesprochen.

In den 2010er Jahren war Body Positivity überall. Auf Social Media zeigten Frauen unter dem Hashtag ihre ungeschönten Körper im Bikini, hielten ihre Bauchfalte und Cellulite-Dellen in die Kamera. Die Kardashians machten size zero zu einem Relikt, das fortweilen der Vergangenheit angehört. Embrace your curves, heißt es jetzt. Zwar ist anzumerken, dass die Kurven schon noch an den richtigen Stellen sein sollten, denn alle wollen einen großen Po, aber keinen großen Bauch … Trotzdem ist zumindest eine Prise Diversität und Körperakzeptanz dabei herausgesprungen.

Aber: Seit geraumer Zeit haben Kim und Kylie (zwei der Kardashian-Schwestern) gar keinen so großen Po mehr und schuld daran soll das Medikament Ozempic sein. Umgangssprachlich auch als Abnehmspritze bekannt, enthält es den Wirkstoff Semaglutid, der das Hungergefühl eindämmt und dabei helfen kann, zehn bis 15 Prozent des Eigenkörpergewichts zu verlieren. Ursprünglich wurde Ozempic entwickelt, um Diabetiker:innen zu therapieren.

Das Medikament Wegovy enthält den gleichen Wirkstoff, ist aber höher dosiert und darf in Deutschland seit dem 15. Juli 2023 auch an Menschen verschrieben werden, die nicht an Diabetes leiden, aber ein erhöhtes Gewicht aufweisen. Auf Social Media begann der Hype um die Abnehmspritze schon Anfang 2023 – auch Celebrities wie Kelly Osbourne und Robbie Williams machten keinen Hehl daraus, mit Ozempic ihrem Traumkörper einen Schritt nähergekommen zu sein. Die mediale Berichterstattung jedenfalls fällt positiv aus, fast so, als könne man Dicksein mit dem Wundermittel einfach wegspritzen.

Size Zero ist zurück

Auf der einen Seite wäre es doch großartig, wenn alle rank und schlank sein könnten, niemand würde aufgrund von Gewicht diskriminiert werden und leidige Diäten gehörten ebenfalls der Vergangenheit an. Auf der anderen Seite frage ich mich, ob die Body-Acceptance-Bewegung eigentlich nur an der Oberfläche gekratzt hat, wenn die meisten von uns tief im Inneren immer noch dünn sein wollen. Jedenfalls hat eine aktuelle Studie der Krankenkasse Pronova BKK kürzlich belegt, dass 32 Prozent der Menschen mehrgewichtige Körper in Bademode abstoßend finden. Ein schockierendes Ergebnis, das zeigt, wie dickfeindlich unsere Gesellschaft immer noch ist.

Zudem sind die Zahlen der jungen Frauen und Mädchen, die an Essstörungen erkranken, gerade besonders hoch. Laut einer Studie der Kaufmännischen Krankenkasse stiegen von 2012 bis 2022 Magersucht, Bulimie und Binge-Eating-Disorder bei den Zwölf- bis 17-Jährigen um rund 54 Prozent an. Auf Instagram und Co. wird wieder der heroin chic propagiert, ein sehr dünner Körperkult, den Supermodels wie Kate Moss in den 90er-Jahren prägten. Ich spüre direkt die Last des Dünnsein-Wahns aus meinen Teenagertagen auf die Schultern drücken. 

Zwischen Körpern, Gewicht und Schönheit

Dr. Elisabeth Lechner, Kulturwissenschaftlerin und Autorin von “Riot, don’t diet – Aufstand der widerspenstigen Körper” stimmt mir zu: “Wie viel wäre gewonnen, wenn wir uns einfach aufeinander beziehen könnten in unseren Interessen und Leidenschaften, anstatt immerzu darüber nachzudenken, wie wir unsere Körper optimieren können?” Leider seien wir von solch einer körperneutralen Welt noch meilenweit entfernt. “Wir leben nun mal in einer lookistischen Gesellschaft, also in einer Gesellschaft, in der Menschen aufgrund ihres Äußeren bewertet, eingeteilt und unterschiedlich behandelt werden”, erklärt sie und fügt hinzu: “Jene Menschen, die als schön gelten, haben Vorteile in allen Lebenslagen und sozialen Zusammenhängen. Das beginnt bei besseren Noten in der Schule bis hin zu höheren Gehältern und hört bei der Bevorzugung am Wohnungsmarkt auf.”

Also dem oder der Einzelnen kann man eigentlich nicht vorwerfen, sich um sein oder ihr Erscheinungsbild zu scheren, weil davon nun mal das persönliche Lebensglück abhängt. So wird es uns jedenfalls suggeriert. Aus diesem Grund sei Schönheit auch nicht das schnöde Frauenthema, als das es oft abgetan wird, sondern zutiefst politisch, so Lechner. Anhand des Konzepts könne man die zentralen Funktionsweisen unserer Gesellschaft und ihre Machtstrukturen festmachen. Im Kern funktioniere die nach dem kapitalistischen Grundprinzip der Profitmaximierung: Es werden immer neue Makel und Unsicherheiten (insbesondere in uns Frauen) geschaffen, denen man dann mit dem Kauf von immer neuen Produkten entgegenwirken soll.

Dick gleich ungesund?

Zum Aufstieg von Ozempic, das den Hersteller Novo Nordisk 2023 zum wertvollsten Unternehmen Europas machte, wäre es mit Sicherheit nicht gekommen, wenn der schlanke, gesunde Körper nicht als Idealbild in unseren Köpfen fest verankert wäre. Ja, ihr habt richtig gehört, schlank und gesund, dick und ungesund. Das sind nämlich die Zuschreibungen, mit denen wir aufwachsen. “Der junge, dünne weiße Körper gilt als das Aushängeschild des leistungsfähigen, gesunden Körpers, dabei ist dünn nicht notwendigerweise gesund und dick nicht notwendigerweise ungesund”, gibt auch Lechner zu bedenken.

Dafür muss man sich lediglich die Olympischen Spiele anschauen: Hier sind Frauen zu sehen, die sich auf Höchstleistungen trimmen und dennoch alle unterschiedliche Körperformen haben. Eine Person mit einem BMI (Body Mass Index) über 30, die in Deutschland als “adipös” eingestuft werden würde, kann fit und sportlich sein, wie die Rugby-Olympionikin Ilona Maher beweist. Vielmehr ist oft die wahnsinnig schlechte Gesundheitsversorgung dafür verantwortlich, dass dicke Menschen unter Gesundheitsproblemen leiden, weiß Lechner.

Institutionalisierte Fettfeindlichkeit mache eben auch vor Ärztinnen, Ärzten oder Pflegekräften nicht Halt. Laut Studien werden Untersuchungen an dicken Körpern mitunter weniger gewissenhaft oder mit Ekel durchgeführt, wodurch Krankheiten im Anschluss nicht erkannt werden. “Wenn du mit Bauchschmerzen ins Krankenhaus kommst und dir gesagt wird, du solltest jetzt erst mal 20 kg abnehmen, aber eigentlich eine Blinddarmentzündung hinter den Beschwerden steckt, ist das nicht nur deprimierend, es kann sogar lebensbedrohlich sein”, so die Expertin.

Selbst schuld

Neben den biologischen Voraussetzungen, die unterschiedliche Körperformen nun mal mitbegründen, gibt es auch gesellschaftliche Aspekte, die zeigen, dass der Leitsatz “Wer dünn sein will, muss nur Diät halten oder genug Willenskraft mitbringen” nicht stimmt. Denn: “Wer wird seinen Körper bestmöglich entsprechend der Normen anpassen können?”, fragt Lechner mich und antwortet dann: “Celebrities in Hollywood, die ganze Teams an Leuten haben, die ihren Körper zurichten, vom Fitnesstraining bis über den Ernährungsplan hin zu Schönheits-OPs oder eben auch der Abnehmspritze.”

Wer die Mittel hat, der kann der Biologie längst möglich etwas entgegenhalten. Aus diesem Grund erfreut sich Wegovy, das ausschließlich für die Behandlung von Adipositas zugelassen ist und im Monat etwa 300 Euro kostet, auch so großer Beliebtheit unter US-Prominenten. Aber was ist mit der alleinerziehenden Mutter, die mehrere Jobs gleichzeitig machen muss, um irgendwie über die Runden zu kommen? Wenn das Geld am Ende des Monats nur für Nudeln mit Tomatensoße reicht, dann mit Sicherheit nicht für die Abnehmspritze. Es wird also kaum möglich sein durch ein solches Medikament den Kreislauf Armut, Vernachlässigung und Dickenfeindlichkeit zu brechen. 

Nicht nur positiv

Bei allem Potenzial, das Ozempic für Diabetiker:innen mitbringt, sieht Lechner kritisch, dass die Nebenwirkungen – starke Übelkeit, Erbrechen und Durchfall – bisher medial vernachlässigt wurden. Gerade bei jungen und gesunden Menschen mit geringem Mehrgewicht seien die Langzeitfolgen noch nicht erforscht, gibt auch Andreas Klinge, Vorstandsmitglied der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft gegenüber NDR zu bedenken. So einen Hype um ein Medikament habe er in den zwanzig Jahren seiner ärztlichen Tätigkeit noch nicht erlebt, so der Hamburger Diabetologe.

Da wo Geld fließt, bleibt die Industrie einfallsreich. Das war schon immer so, wird aber nie dazu führen, dass alle dünn sind. Denn “wenn man die Spritze wieder absetzt, nehmen die Menschen wieder zu”, erklärt Klinge. Die erhoffte Revolution bleibt somit vermutlich vorerst aus. Tatsächlich könnte eher das Gegenteil der Fall sein: nämlich, dass mehrgewichtige Menschen in Zukunft noch mehr mit Stigma zu kämpfen haben, weil durch die sehr einseitige Aufklärung bezüglich Ozempic und Wegovy die allgemeine Annahme aufkommt, dass doch jetzt erst recht niemand mehr dick sein müsse.

“Die Fettfeindlichkeit in unserer Gesellschaft wird man aber nicht einfach wegspritzen können”, sagt auch Lechner. Echte Inklusion bedeutet, dass die gesellschaftlichen Strukturen verändert werden müssen, dass für alle Platz ist. Das geht nicht über Nacht, aber mit einer inklusiveren Betrachtung von Körpern wäre mit Sicherheit vielen geholfen, denn wirklich frei vom Schönheitsdruck ist fast niemand.

Source: Aktue